Wir brauchen eine andere Sichtweise auf Demenz

Jeder kennt Erfahrungen die er am liebsten ausblenden würde.  Häufig handelt es sich  um Peinlichkeiten, die mit Bemerkungen wie dieser kommentiert werden: „Mir war das so peinlich, dass ich mir gewünscht hätte,  in einem Mauseloch verschwinden zu können.“  Ein Mensch, der sich hingegen bei einer Sache ertappt fühlt, die sein Selbstwertgefühl im Mark erschüttert, kann sein Selbst (Seele) oft nur mit Hilfe der Verdrängung retten.  Das neuronale Netz steht unter Strom, Sicherungen brennen durch, Panik bricht aus.  Manche schlagen wild um sich, andere erstarren in bedrohlichen Situationen und können sich hinterher nicht mehr erinnern.   Auch in weniger dramatischen Situationen neigen viele Menschen dazu, unangenehmes auszublenden.  Da kann dann im Laufe eines langen Lebens einiges zusammen kommen.  „Schwamm drüber. Vergiss es. Augen zu und durch.“, sind nicht bloß häufig gehörte Parolen, vornehmlich von älteren Menschen die vielleicht nur deshalb Krieg, Vertreibung und anderes überlebt haben, weil sie vergessen konnten, was sie belastet hätte.  Ihr Blick war nach vorne gerichtet, Auswege wurden gesucht und gefunden.  Im Alter, am Ende des irdischen Lebenslaufes, wenn nach vorne kein Weg mehr gesehen wird und die verdrängten Erfahrungen als diffuse Ängste  scheinbar aus dem Nichts auftauchen,  wartet nicht selten die Demenz .

Ein ungewöhnliches Verständnis für alte Menschen, die ihr früheres Leben  vergessen haben und nur noch in der Gegenwart leben,  hat Ante Caljkusic.  In den Lehrbüchern und der offiziellen Fachliteratur, die er während seiner Ausbildung zum Altenpfleger und darüber hinaus kennen lernte, fand er keine Erklärungen für psychosozialen Zusammenhänge bei Alzheimer.  Als jemand der sich für die Biographie und die Lebenserfahrungen der Menschen, vor der Demenz, interessiert, kam ihm regelmäßig die Vermutung, dass das Vergessen psychische Ursachen hat.  Während  der Weiterbildung zur Gerontologischen Fachkraft  fand er zufällig das Buch von Joachim Bauer: „Das Gedächtnis des Körpers“ welches ihn motivierte in seiner Facharbeit der Frage nachzugehen, inwieweit  Vergessen eine Gnade ist.  Facharbeit-Psychosomatik-Demenz_Ante-Caljkusic_2011

Interview mit Herrn Ante Caljkusic

A.v.Stösser: Herr Caljkusic, nun sind es fünf Jahre her, seit Sie diese Facharbeit schrieben. Mittlerweile unterrichten Sie selbst an einem Altenpflegeseminar. Haben die Erkenntnisse aus der Neurogenetik und Psychosomatik, wie sie Bauer und andere Wissenschaftler beschreiben, inzwischen Einzug in die Lehrbücher genommen? Falls nein, woran liegt das Ihrer Meinung nach?

Ante Caljkusic: Das kann ich so leider nicht feststellen. In den Lehrbüchern, die ich kenne, steht weitestgehend der medizinisch-pflegerische Aspekt der Erkrankung im Vordergrund. Risikofaktoren, Diagnostik, Symptomatik, Verlauf, Prognose, Therapie und Medikamente, Pflegeinterventionen. Diese Dinge halt. Das Krankheitsbild wird umfassend beschrieben. Doch die eingangs genannten psychosozialen Zusammenhänge der Alzheimererkrankung, die Auswirkungen von lebenslänglichen Traumata auf neuronale Strukturen, darüber findet sich kaum etwas. So wie sich die internationale Forschung weiterhin fast ausschließlich auf die molekularbiologische bzw. genetische Ebene konzentriert. Alles dreht sich um die Amyloid-Ablagerungen und die Neurofibrillenbündel, von denen wir jedoch immer noch nicht wissen, ob sie Begleiterscheinungen oder Ursache von neurodegenerativen Erkrankungen sind. Diese Ausrichtung auf den neuropathologisch-biochemischen Bereich spiegelt sich in den Lehrbüchern wieder. Das halte ich für unausgewogen. Warum das so ist, kann ich nur schwer beurteilen. Vielleicht spiegelt sich hier die gesellschaftliche Hilfslosigkeit gegenüber dem Phänomen Demenz wieder.

A.v.Stösser: Welche Schwerpunkte sollten in der Ausbildung zum Thema Demenz gesetzt werden? Was kommt nach Ihrer Erfahrung zu kurz?

Ante Caljkusic: Zum Einen sollte die schon längst eingetretene Entwicklung in der Diskussion um alternative Versorgungskonzepte für Menschen mit Demenz endlich auch in den Fachseminaren ankommen. Es sind nun mal die jetzigen SchülerInnen, die zukünftig als Praktiker unmittelbar an der Basis arbeiten und sowohl im ambulanten als auch im stationären Bereich die Auswirkungen einer demenziellen Veränderung bei älteren Menschen Tag für Tag erleben. Sie haben ein Recht darauf, etwas von Möglichkeiten der Verbesserung der Wohn- und Lebenssituation der Betroffenen zu erfahren. Von Normalitätsprinzip, alternativen Wohnkonzepten wie z.B. ambulant betreuten Wohngruppen für Menschen mit Demenz, den Demenz – WG‘ s, von Alzheimerdörfern, von Teilhabe statt Teilnahme, von Wohnen im Quartier und so weiter. Warum wird die massenhafte Unterbringung von alten, in der Mehrzahl demenziell veränderter Menschen in Heimen (und unter dem Begriff „Junge Pflege“ auch immer jüngere pflegebedürftige Menschen) im Zeitalter der Inklusion noch immer als soziale Errungenschaft gepriesen? Als alternativloser Normalfall? Das muss in Frage gestellt werden. Diese Diskussionen dürfen nicht Theoretikern von Elfenbeintürmen überlassen werden. Pflegende und Angehörige haben hier wohl auch ein gewichtiges Wörtchen mitzureden.

Zum Anderen ist es absolut sinnvoll, dass SchülerInnen in seit Jahren erfolgreich praktizierte alternative Pflege- und Betreuungskonzepte eintauchen können. Warum das Rad zweimal erfinden? Die begeisterten Berichte von SchülerInnen, die einen Praktikumseinsatz in einer Demenz-WG absolviert haben, sprechen für sich. Sie lernen dort, das Staunen zuzulassen. Und vor allem, dass so ein WG – Alltag gleichzeitig Herausforderung ist als auch Humor und Freude mit sich bringt. Ganz ohne rote Pappnase. Sie erfahren ganzheitliche Pflege. Wenn das dort praktisch erworbene Wissen dann im theoretischen Unterricht von unterrichtenden Altenpflegern aus diesem Bereich vertieft und ergänzt werden kann, ist das ideal.

Weiterhin haben SchülerInnen das Recht, von alternativen Erklärungsmodellen des Demenzphänomens zu erfahren, eine Sichtweise der Entstehung jenseits von Amyloid-Ablagerungen und Neurofibrillenbündel. Dazu gehört natürlich auch die sogenannte „Nonnenstudie“. All dies mit dem Hintergrund, für ein besseres Verständnis der von uns betreuten alten desorientierten Menschen zu plädieren und Konzepte zu präsentieren, die diese psychosoziale Komponente berücksichtigen.

Ein zentraler Schwerpunkt erscheint mir jedoch, dass in den Fachseminaren die auf fatale Weise negativ beeinträchtigte Sichtweise auf die Demenz verändert wird. Menschen, die demenziell verändert sind, haben soviel Lebensweisheit, Kompetenzen, können mit Wortwitz und verblüffender Schlagfertigkeit brillieren. Die während meiner Jahre in einer Dortmunder Demenz-WG gemachten Erfahrungen des gemeinsamen Lebens und Arbeitens mit Menschen auf ihrer One-Way-Reise des Vergessens haben mich soviel gelehrt! Wie das Leben gemeint sein könnte. Wie ich gemeint sein könnte. Sie, die verwirrten alten Menschen, waren und sind meine Vorbilder in Sachen wertschätzender Umgang, Beziehungspflege, Menschlichkeit und Herzlichkeit. Sie haben mir eine Art „friedlicher Koexistenz“ unterschiedlicher Wirklichkeiten erfahrbar machen lassen. Haben mir aufgezeigt, was sie brauchen. Sicher nicht immer mehr steril-standardisierte Rund-um-die-Uhr-Sorglos-Pflege, die ihnen alles abnimmt und sie zu Pflegefällen degradiert. Und auch keine nüchtern-neutrale, kühl-distanzierte Pflegeprofis, die jede Interaktion, jede Begegnung mit ihnen zur therapeutischen Intervention erklären. Menschen mit Demenz wollen als ganzer Mensch gesehen werden! Sie brauchen echte Bezugspersonen, um trotz der Demenz Persönlichkeit bleiben zu können. Sie brauchen Pflegende, die ihr Anderssein nicht als Krankheitssymptom, als herausforderndes Verhalten interpretieren. Und sie nicht erziehen wollen, sondern sie liebevoll begleiten. Letztlich Menschen, die – um mit den Worten von Saint – Exupérys kleinen Prinzen zu reden – mit dem Herzen sehen. Ich nenne das herzlich angewandte Fachlichkeit.

A.v.Stösser: Können Sie uns ein Beispiel nennen, eine Frau, ein Mann mit der Diagnose Alzheimer-Demenz, bei der Sie den Eindruck hatten, dass es eine Gnade war, ihre Vergangenheit vergessen zu haben?

Ante Caljkusic:  Mir fällt spontan die Geschichte von Frau H. ein. Sie gehörte zu den sogenannten Kriegskinder-Jahrgängen. Während des 2. Weltkrieges hatte sie auf einer dramatischen Flucht aus Ostpreußen (Königsberg) traumatische Erlebnisse. Bomben, Hunger, Tod überall. Sie war damals 12 Jahre alt. Eine ihrer Schwestern war am Tag der Flucht unauffindbar. Die Familie hörte nie wieder von ihr. Zeit zum Trauern, zur Verarbeitung ihrer schrecklichen Erlebnisse gab es in den schweren Nachkriegsjahren nicht. Die traumatischen Erfahrungen wurden – so wie es viele Kriegskinder taten – verdrängt. Sie baute sich ihr Leben auf, heiratete, bekam ein Kind, hatte Arbeit. Brachte es zu relativem Wohlstand. Doch immer wieder gab es Konflikte in ihrer Familie, litt sie unter depressiven Verstimmungen. Nach dem von ihr als schrecklich empfundenem Tod ihrer Eltern entwickelte sie Wahnvorstellungen, schien immer desorientierter, wurde betreuungsbedürftig. Ein selbstständiges Leben war ihr nicht mehr möglich. Sie kam mit der Diagnose Alzheimer-Demenz zu uns in die Demenz – WG. Wir erlebten ihre ängstlichen Gefühlsschwankungen, ihre Unsicherheit, aber auch ihre hoch emotionellen Ausbrüche. Sie fühlte sich schnell provoziert, ausgegrenzt, beobachtet. Nachrichtensendungen oder Filme mit gewalttätigen Szenen führten zu Panikattacken oder Wutausbrüchen. Das war eine anstrengende Zeit für alle. Bis wir schließlich in Absprache mit dem Neurologen und ihrem Betreuer ihre Medikation änderten. Ein sogenanntes „Antidementivum“ wurde abgesetzt. Später auch ein Psychopharmakon, das Frau H. wegen ihrer Verhaltens-auffälligkeiten erhalten hatte. Was dann geschah werde ich nie vergessen. Die Demenz schritt schnell voran. Am Ende, um es abzukürzen, war sie wieder in der damaligen „heilen“ Welt eines kleinen Mädchens angelangt. Ihre behütete Vorkriegskindheit war jetzt ihre Wirklichkeit. Dies zeigte sich, als sie eines Tages das alte Lied „Ännchen von Tharau“ anstimmte. Ein Lied aus ihrer Heimat. Das hatte sie mit ihrer Mutter oft gesungen. Ich weiß nicht was geschehen war, aber diese schrecklichen Erlebnisse der Kindheit schienen verschwunden zu sein. Oder – um es anders auszudrücken – die Gnade des Vergessens hatte sich wie ein beschützender Mantel um sie gelegt.

A.v.Stösser: Sie haben folgendes Zitat von Albert Einstein an den Anfang ihrer Facharbeit gestellt: „Die reinste Form des Wahnsinns ist es, alles beim Alten zu lassen und gleichzeitig zu hoffen, dass sich etwas ändert.“ Ich nehme an, sie beziehen dieses auf den Paradigmenwechsel, den wir uns alle wünschen. Wie stellen Sie sich diesen Wechsel konkret vor?

Ante Caljkusic:  Das ist keine leicht zu beantwortende Frage. Klar ist, dass ein Paradigmenwechsel Änderungen der Strukturen der Pflegelandschaften mit sich bringen muss und wird. Mehr Quartier, mehr Wohngemeinschaften, mehr Kommune. Aber es ist nicht meine Aufgabe, mir darüber den Kopf zu zerbrechen. Ich bin Altenpfleger, Dozent und Visionär. Ich halte es für unerlässlich, die gelebte Praxis einer sich kümmernden personenzentrierten Pflege erfahrbar zu machen. Für alle in der Pflege tätigen, vor allem für Auszubildende. Es gibt diese Pflege doch schon. Von den Konzepten ganz zu schweigen. Tom Kitwood, Cora van der Cooij, Gineste und Marescotti, Naomi Feil, Nicole Richard, Erich Schützendorf, um nur einige zu nennen. Wir müssen das Rad nicht neu erfinden. Durch die gelebte Praxis kann erfahrbar gemacht werden, dass alle von einer neuen Grundeinstellung profitieren: die Pflegebedürftigen, die Pflegenden, die Angehörigen, aber auch die jeweilige Einrichtung. Ein weiterer Weg der Veränderung stellt eine breite Aufklärung dar. So viele Menschen, Mitstreiter und Querdenker arbeiten daran. In der Öffentlichkeit, in den Fachseminaren, in den Pflegeeinrichtungen, in den Medien, überall. An vorderster Stelle, ihnen gebührt mein Respekt, stehen Menschen, die sich trauen, öffentlich über ihr Leben als demenziell Betroffener zu reden. Über ihre Gefühle, ihre Gedanken. Eine andere Sicht auf die Demenz wäre so wichtig. „Der kleine Prinz“ als Fachbuch in Altenpflegeseminaren ist ein interessanter Gedanke, der, wenn ich mich recht entsinne, von Erich Schützendorf formuliert wurde. Dieses Buch hat jedenfalls in meinem Lehrgepäck seinen festen Platz. Ich wünsche mir, dass die Alzheimer – Sonderseite des Pflege-Selbsthilfeverbandes dazu beiträgt, dieses „Phänomen jenseits des Verstandes“ aus der biologisch-medizinischen Krankheitsschublade herauszuholen und sie stattdessen als eine von mehreren Möglichkeiten der Alterung anzusehen. Und ich wünsche mir, dass immer mehr Orte geschaffen werden, an denen alte Menschen „in Ruhe verrückt werden dürfen“ , so der Titel eines Buches von Schützendorf/Wallraffen – Dreisow.

Zum Schluss möchte ich ein weiteres Einstein – Zitat aufführen:

Eine wirklich gute Idee erkennt man daran, dass ihre Verwirklichung von vorneherein ausgeschlossen erscheint.

In diesem Sinne, es gibt viel zu tun!

Ante Caljkusic ist aktives Mitglied im Pflege-SHV

 

1 Kommentar

  1. Neue Ansichten auf die Demenz gibt es auch von Betroffenen, da muss man nicht auf alte Klassiker zurückgreifen-). Ich empfehle ihnen mein „DemenzBetroffenenbuch“ Miss Demenzia und ihr Demenzielles Herrchen…wie man auch mit Demenz ein positives Leben leben kann oder bei FB auch mal den Blog Demenz frisst meine Seele anschauen -)

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