Muss Heimbewohnerin schreiende Zimmernachbarin ertragen?

Dr. med. Mechthilde Kütemeyer. FÄ für Neurologie, Psychosomatik und Psychotherapie. Von 2006 bis zu ihrem Tod 2016, Mitglied der Pflegeethik-Initiative.

Kurz vor Weihnachten 2023 erhalten wir folgenden Hilferufe einer Angehörigen.

Sehr geehrte Frau v. Stösser,
ich hoffe, Sie können mir weiterhelfen. Ich habe das Netz durch gestöbert und bin auf Ihre Seite gestoßen.

Meine Mutter lebt seit ca. 5 Jahren in einem Pflegeheim der AWO Görlitz, in einem Zweibettzimmer.  Der Grund für die Heimunterbringung war ein schweres Schädelhirntrauma. Seit dem spricht  meine Mutter nicht mehr. Sie kann sich weder zu Schmerzen noch zu irgendetwas äußern, was mit ihr passiert oder gemacht wird.  Seit langem sitzt sie auch nur noch im Rollstuhl. Da sie sich selbst nicht mehr bewegen kann, auch nicht essen und trinken kann, benötigt sie rund um die Uhr bei allem Hilfe.

Ein häufiger Grund zur Beschwerde ist, dass man sie stundenlang im Rollstuhl sitzen lässt.  Fast immer wenn wir kommen sitzt sie total schief im Rollstuhl.  Nur wenn die Angehörigen kommen und man uns sieht, wird dieser Zustand schnell abgeändert. Ich kann nur sagen, nach allem, was wir als Angehörige bisher in den 5 Jahren dort mitbekamen, wünsche ich meiner Mutter nur, dass sie bald ihre Augen schließt und dieses Leid für sie endlich ein Ende hat. Auch für uns ist es grausam unsere liebe Mutti so dahin vegetieren zu sehen. Meine Gedanken kreisen von morgens bis abends nur um das Thema, wie es ihr wohl gerade geht, was könnte man anders machen, aber wir sind auf dieses Heim angewiesen.

Sie hat in dem Heim so dermaßen körperlich abgebaut, dass es nur noch traurig ist sie so zu sehen. Seit einiger Zeit verweigert sie nun auch das Essen. Scheinbar hat sie selber auch mit ihrem Leben abgeschlossen. Sie spürt und kann sich nicht dagegen wehren, wenn sie von PflegerInnen  wie ein Gegenstand behandelt wird, der ab und zu mehr schlecht als recht geputzt werden muss.

Nun aber zu meiner Frage. Seit über 5 Jahren wohnt meine Mutter in einem Zweibettzimmer und immer wieder hat man ihr unbequeme Bewohner ins Zimmer gelegt.
Es war ein Kommen und ein Gehen. Bisher haben wir als Angehörige nie etwas dazu gesagt, nun seit Anfang der Woche ist eine ältere Dame in ihr Zimmer verlegt worden,
die von morgens bis abends mit sehr lauter und schriller Stimme schreit. (Nachts soll sie angeblich ruhig sein, aber überprüfen können wir das natürlich nicht)

Vermutlich hat man diese Frau zu meiner  Mutter ins Zimmer gelegt, weil sie sich nicht beschweren kann.  Aber man merkt ihr an, wie sehr ihr die Situation zusätzlich zu ihrer ohnehin schon sehr schlechten Lebenslage, zu schaffen macht. Was können wir tun?

Haben wir ein Recht darauf, diesen Zustand sofort beenden zu lassen?

Immerhin verlangt man auch noch für diese Art des Wohnens schon wieder ab Januar 630,- Euro mehr Entgelt. Können wir nicht wenigstens erwarten, dass das Heim die   letzten Lebensmonaten, die meine Mutter noch hat, dafür sorgt, dass sie nicht Tag und Nacht diesem Stress ausgesetzt wird.

Ich wäre Ihnen für eine schnelle Antwort sehr dankbar. Wir wissen nicht was wir tun sollen.

Mit reundlichen Grüßen

A. F.

Meine umgehende Antwort:

Sehr geehrte Frau F,

das klingt ja furchtbar was Ihrer Mutter da zugemutet wird.  Auch oder gerade weil sie sich selbst gegen das ständige Schreien nicht wehren kann, ist sie darauf angewiesen, dass andere ihr diese „Folter“ ersparen.

Sie sollten gegenüber dem Heim nachdrücklich eine Verlegung der Mutter fordern. Fünf Jahre in einem Zweibettzimmer, mit Menschen, die man sich nicht selbst aussuchen konnte, ist schon Zumutung genug. Sollte das Heim nicht reagieren, würden wir uns einschalten und den Verantwortlichen klar machen, dass das dieser Bewohnerin zugemutete, als „Folter“ zu werten ist.

Mit freundlichen Grüßen
Adelheid von Stösser

Oft schon haben sich Angehörige mit der Frage an die Pflegeethik-Initiative gewandt: „Müssen wir eine schreiende Bewohnerin im Zimmer der Mutter hinnehmen?“  Das typische Schreien, von dem hier die Rede ist, zeigt sich vor allem bei Frauen in einer bestimmten Phase der Demenz.  Es ist Ausdruck tiefster Verzweiflung. Man kann das Schreien nicht durch beruhigende Worte abstellen. Vielmehr ist es üblich, diese Bewohner mittels  hochdosierter Neuroleptika ruhig zu stellen.  Wenn die Heimleiterin erklärt, dass die schreiende Bewohnerin nachts schlafe, so wird sie entsprechende Medikamente bekommen.   Frau Dr. Kütemeyer, hatte sich als Ärztin mit dem Phänomen dieses Symptoms befasst und festgestellt, dass dieses Schreien auf traumatischen Erfahrungen in der Kindheit oder Jungend herrührt. Wie ja überhaupt die Demenz vorzugsweise bei Menschen  auftritt, die im kindes- oder jugendalter, tiefe Verletzungen und Verunsicherungen erfahren haben.  Damals konnten/durften sie nicht schreien. Niemand hat ihr Leiden gesehen und mit ihnen darüber gesprochen. Als Erwachsene waren die Betroffenen mit den alltäglichen Aufgaben dann so beschäftigt, dass diese verdrängte Erfahrung nicht zum Vorschein kam. Im Alter jedoch, wenn erneut eine hilflose Lage eintritt, fühlen sie sich daran berührt, ohne sich bewusst erinnern zu können.  Frau Kütemeyer stellte außerdem fest, dass man diese Frauen gut beruhigen kann, wenn man sie in den Arm nimmt. So wie sie es von ihrer Mutter erwartet hätten, als sie in der hilflosen Lage waren.  Eigentlich eine recht einfache und einleuchende Hilfe, die jedoch in der Praxis auf emotionale Sperren stößt.  Erwachsene, alte Menschen in den Arm nehmen und trösten, damit tut man sich schwer.  Das wir in der Pflegeausbildung nicht vermittelt und erscheint zeitlich im Alltag nicht umsetzbar.  Folglich lässt man diese Menschen tagelang schreien. Bis bei allen die Nerven blank liegen und der Arzt die beruhigenden Pillen anordnet.  Mit dem Ergebnis, dass diese Menschen auch nach Absetzen der Mittel, oft keinen Ton mehr von sich geben. Sie sprechen nicht mehr und sind im Grunde nur noch körperlich anwesend.  Geist und Seele haben sich zurückgezogen.  In diesem Zustand scheinbarer Empfindungslosigkeit können mache jahrelang ausharren.  In einem Falle, in dem ich die Tochter begleitet habe, waren es sogar 11 Jahre (Pflegegrad 5 im Pflegeheim). Diese fürchterliche Entwicklung hätte man allen ersparen können. Durch ein anderes Verständnis und eine andere Haltung im Umgang mit Symptomen der Demenz im Anfangsstadium.

Nun zurück zur oben beschriebenen Situation: 
Hier hat das Heim eine schreiende Bewohnerin zu einer Bewohnerin gelegt, die sich nicht wehren kann.  Diese Bewohnerin kann nicht hingehen und ihr den Mund zu halten, wie das vielleicht mobile Bewohner in ihrer Demenz tun würden, weil sie das Schreien nicht ertragen.  Denn kein Mensch kann solch ein Schreien länger als 10 Minuten aushalten ohne darauf zu reagieren.  Die Mutter von Frau F. kann sich jedoch weder verbal beschweren, noch das Zimmer verlassen oder der schreienden Bewohnerin ein Kissen auf Gesicht drücken. Aber sie kann hören und sie zeigt deutliche Stressreaktionen.  Für diese muss das eine Folter sein, der sie schutzlos ausgesetzt ist.
Ihre Töchter empfinden das. Jeder, der nicht abgestumpft ist, kann das nachempfinden.   Heimleiterin und das Personal, die häufiger mit solchen Situationen konfrontiert sind, reagieren hingegen abgestumpft.

Meine Antwort auf die Frage, ob Heimbewohner das Schreien hinnehmen müssen, ist ein klares NEIN. Auf gar keinen Fall!  Denn dieses Schreien verursacht Schmerzen.  Es verletzt die Seele und verstärkt das Gefühl der eigenen Hilflosigkeit.  Es ist eine unerträgliche Quälerei, der die Mitbewohnerin ausgesetzt wird.  Und dass muss man der Heimleitung klar machen. Da kann es keine zwei Meinungen geben.


Die Fachärztin, Dr. med. Mechthilde Kütemeyer verstarb leider bereits 2016.  Mit Ihrer Haltung und anderen  Sicht auf die Demenz  war sie ein Vorbild.  Sie setzte sich für eine „sprechende Medizin“ ein.

Ein Nachruf im Ärzteblatt

Text: Demenz vorbeugen

Das chronische Müdigkeitssyndrom: Eine Form der somatischen Angstneurose

2 Kommentare

  1. Das alles kann ich sehr gut nachempfinden, weil wir das bei unserer Mutter genauso erlebt haben. Doch sie hatte Glück, wir konnten sie aus dem Heim wieder rausholen. Schauen Sie sich doch auch mal den Artikel von Frau von Stösser an: „Der Fremdbestimmung entflohen“. Da geht es um unsere Mutter (Elvira O.). Sie fehlt mir so sehr!!!
    Viel Kraft wünsche ich. Ich weiß, dass man so Einiges niemals vergessen wird und auch nicht kann.

  2. Sehr geehrte Frau v. Stösser,

    vielen Dank für Ihre Antwort. Ich war zwischen den Feiertagen Ende Dezember noch einmal außerplanmäßig für 2 Tage meine Mutti im Heim besuchen. Ich wohne ca. 4 Stunden von dem Heim entfernt und konnte leider nicht so oft vor Ort sein. Ich kann nur sagen, dass ich über meinen spontanen, aus dem Bauch heraus entschiedenen Besuch im Nachhinein sehr, sehr froh bin, denn diese beiden Tage waren die beiden letzten Tage, an denen ich meine Mutti lebend sah. Da scheinbar nur ich und kein Personal sah, wie sich meine Mutter vor Schmerzen zu quälen scheint -nicht nur aufgrund ihres notdürftig behandelten, seit Monaten offenen und stark entzündeten Zehs- auch weil sie zunehmend unter einer Luftnot litt, die scheinbar auch niemand vom Personal zur Kenntnis zu nehmen schien, habe ich die Palliativpflege beantragt, welche von der PDL erst einmal wohlwollend, vom Pflegepersonal selbst aber scheinbar als redundant betrachtet wurde. Wie auch immer, meine Mutti ist 6 Tage nach meinem Besuch für immer und hoffentlich nicht sehr qualvoll eingeschlafen. Wie meine Mutti die letzten Stunden in der Nacht und morgens noch erlebt oder verbracht hat, vermag ich nicht zu sagen. Vom ersten Anruf durch das Heim, bis zum Zeitpunkt des Einschlafens lagen ca. 20 -30 Minuten. Angeblich hat man (…), diese Aussagen kannte ich schon. Selbst der vom Heim angegebene Zeitpunkt des Todes mit dem vom Arzt ausgestellten Zeitpunkt auf dem Totenschein stimmen nicht überein. Das sind Ungereimtheiten, wie ich sie aus dieser Einrichtung gewohnt war.

    Alles in allem kann ich nur sagen, dass diese 5 Jahre in der Einrichtung, für meine Mutti die schlimmsten Jahre ihres Lebens gewesen sein müssen. Was ich weiterhin sagen kann ist, dass mir durch ihren Tod eine unendliche Last vom Herzen gefallen ist, dass sie nun endlich dieser Pflegehölle entkommen ist. Es gibt nur noch ganz wenige Ausnahmen, die den Pflegeberuf mit Empathie und Freude ausüben. Jenen, die meiner Mutter in ihrer unsäglich qualvollen Lage während ihres Aufenthaltes noch ein Lächeln abringen konnten, möchte ich dafür danken. Jenen, die die Lage eines in allen Lebenslagen hilflosen Menschen dazu zum Anlass nahmen, ihren Frust über ihren scheinbar nicht gerade selbstgewählten oder ungewollten Beruf, in Form von gleichgültiger und empathieloser und/oder sogar in Form einer ruppigen Pflege an auf Hilfe angewiesenen alten Menschen ausüben sei gesagt, wechselt den Beruf, ihr habt bei der Arbeit mit Menschen, die eine wirkliche Lebensleistung vollbracht haben nichts verloren, denn so eine Behandlung hat keiner in seiner letzten Lebensphase verdient. Ihr habt Menschen vor euch, auch wenn diese vielleicht geistig, körperlich eingeschränkt sind, es sind Menschen und keine unliebsamen Gegenstände. Denkt daran, auch vor euch macht das Alter keinen Halt, was ich euch wünsche, bleibt hier unausgesprochen, jeder denke sich seinen Teil.

    Übrigens hat man sich nicht bemüht, die schreiende neue Bewohnerin im Zimmer meiner Mutti zu verlegen. Hier gab es Ausreden über Ausreden, warum dies nicht möglich sei.

    Ruhe nun in Frieden liebe Mutti, das hast du dir mehr als verdient. Ich danke dir für alles. In Liebe deine Tochter.

    Freundliche Grüße
    A. F.

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