Schwerhörigkeit als Demenz fehlgedeutet

Viele alte Menschen leiden an einer mehr oder weniger ausgeprägten Schwerhörigkeit.  So auch W.K., der Anfang 2021 nach einem Sturz  in die Klinik kam und anschließend von der ihm zugeteilten Betreuerin in einem Pflegeheim untergebracht wurde.  Ein gerichtlich bestellter Gutachter hatte dem 88-jährigen  eine Demenz bescheinigt, ohne seine Schwerhörigkeit  und die Medikamente zu berücksichtigen, die diesen Eindruck erwecken konnten.  Im Grunde handelte es sich dabei lediglich um eine kurze ärztliche Bescheinigung nach Inaugenscheinnahme.  Die Wirkung war jedoch fatal.  Sie führte dazu, dass dem zuvor vollkommen selbstständigen Mann, jeglicher Zugriff auf  seine persönlichen Angelegenheiten verwehrt wurde. Die Post und alles ging direkt an die Betreuerin. Herr K. wurde weder gefragt noch informiert. Da er jedoch keineswegs  dement ist, gelang ihm mit unserer Hilfe  die Rückkehr in sein Haus, wo er ohne pflegerische  Hilfe sein altes Leben wieder aufnehmen konnte.

Zu diesem Fall siehe Beitrag auf pflegeethik-initiative.de

Schwerhörigkeit im Alter wird oft als Demenz fehlgedeutet   

Im Falle des Herr K.  kamen einige Dinge zusammen.  Ein Schädel-Hirn-Trauma nach Sturz, Medikamente gegen die Schmerzen und zur Beruhigung.  Auch ohne Schwerhörigkeit wirken Patienten nach einem solchen Unfall oft verwirrt.  Sie leiden an einem sogenannten Durchgangssyndrom, welches  nach wenigen Tagen meist von alleine wieder verschwindet.  Manchmal bildet sich das Syndrom erst nach  Wochen oder Monaten zurück.  Darum sollte in solchen Fälle nie nur das erste ärztliche Gutachten herangezogen werden.  Selbst wenn  bestimmte  kognitive  Einschränkungen, die 14 Tage nach einem Unfall  festgestellt wurden,  bei der Nachuntersuchung vier Wochen später, immer noch bestehen, muss das nicht bedeuten, dass hier keine Besserung mehr zu erwarten ist.  Laut Diagnoseschlüssel ICD  sollte erst dann von einer bleibenden Demenz ausgegangen werden, wenn die Beeinträchtigungen auch nach einem halben Jahr fortbestehen.

Eigentlich sollte jeder Arzt wissen,  dass alleine Medikamente (vor allem Psychopharmaka, davon besonders Neuroleptika) Demenzsymptome hervorrufen können. Ebenso Flüssigkeitsmangel.  Werden diese Medikamente abgesetzt und der Flüssigkeitsmangel behoben, sind die Betroffenen bald wieder klar im Kopf.  Insofern muss es als Kunstfehler (bzw. falsche Tatsachenbehauptung) angesehen werden, wenn ein Arzt  dem Patienten die „Einsichtsfähigkeit“ aberkennt, ohne sich vorher darüber vergewissert zu haben, dass weder Medikamente noch Flüssigkeitsmangel noch Schwerhörigkeit  die festgestellten Beeinträchtigungen  ausgelöst haben.

Liegt eine Schwerhörigkeit vor, ist folgendes zu beachten:

  • Den Betroffenen im Gespräch anschauen, damit er Gestik, Mimik und Lippenbewegung wahrnehmen kann. Nicht von hinten oder von der Seite ansprechen.
  • Laut, langsam und deutlich sprechen, ohne zu schreien.
  • Falls Hörgeräte vorhanden, darauf achten, dass diese angezogen sind und funktionieren.
    Besteht trotz Beachtung dieser Punkte der Eindruck, dass nicht alles verstanden wird, sollte schriftliche Kommunikation versucht werden.  Der Untersuchende  schreibt  seine Fragen (gut lesbar)  auf ein Blatt Papier und bittet darum, diese mündlich zu beantworten.  Bei Herrn K. hätte mit  dieser Methode kein Arzt auch nur ansatzweise eine Demenz vermutet.   Denn er hätte sofort erkannt, dass dieser Mann lesen kann und darüber hinaus  versteht, was er liest, indem er sinngemäße Antworten gibt.  Um seine Einsichtsfähigkeit festzustellen, hätte es nicht einmal eines Arztbesuches bedurft.  Der Betreuungsrichter oder die Betreuerin hätten sich mit dieser einfachen Methode selbst von der vollständigen Orientierung des Herrn K.  überzeugen können.

Zur Macht des Gutachters in Betreuungsverfahren

Zeigt sich ein Volljähriger, für den das Gericht eine  Betreuerbestellung für erforderlich hält, uneinsichtig, besteht die Verpflichtung des Gerichts,  ein Sachverständigengutachten einzuholen.  In Eilverfahren reichen dem Betreuungsrichter dazu auch Angaben aus einem ärztlichen Zeugnis.  Bei jüngeren Personen mit psychischen Problemen, die schlechte Erfahrungen gemacht haben und sich gegen die Betreuung wehren, wird zumeist ein psychiatrisches Gutachten angefordert.  Bei älteren Personen gehen Richter, die ja medizinische Laien sind, in der Regel ohne weitere Prüfung davon aus, dass die Diagnose Demenz mit dem Verlust der Einsichtsfähigkeit einhergeht. Nur bei fehlender Einsichtsfähigkeit darf der Richter von Amts wegen eine Betreuung gegen den Willen des Betroffenen anordnen.

280 FamFG: (1) Vor der Bestellung eines Betreuers oder der Anordnung eines Einwilligungsvorbehalts hat eine förmliche Beweisaufnahme durch Einholung eines Gutachtens über die Notwendigkeit der Maßnahme stattzufinden. Der Sachverständige soll Arzt für Psychiatrie oder Arzt mit Erfahrung auf dem Gebiet der Psychiatrie sein.

(2) Der Sachverständige hat den Betroffenen vor der Erstattung des Gutachtens persönlich zu untersuchen oder zu befragen. Das Ergebnis einer Anhörung nach § 279 Absatz 2 Satz 2 hat der Sachverständige zu berücksichtigen, wenn es ihm bei Erstellung seines Gutachtens vorliegt.

(3) Das Gutachten hat sich auf folgende Bereiche zu erstrecken:

  1. das Krankheitsbild einschließlich der Krankheitsentwicklung,
  2. die durchgeführten Untersuchungen und die diesen zugrunde gelegten Forschungserkenntnisse,
  3. den körperlichen und psychiatrischen Zustand des Betroffenen,
  4. den Umfang des Aufgabenkreises und
  5. die voraussichtliche Dauer der Maßnahme.

Unsere Erfahrung   

Ärztliche Gutachten in Betreuungsfragen haben schon so manchen Betroffenen und Angehörigen  zur Verzweiflung gebracht.  Uns liegen Gutachten von Fachärzten vor, an denen jeder Laie sofort erkennen kann, dass der Gutachter im Sinne seines Auftraggebers, des Betreuungsgerichtes, argumentiert.  Beispiel: Eine Neurologin hat einem alten Ehepaar nach einem 20-minütigen Besuch kurzerhand eine Alzheimer-Diagnose bescheinigt (Fallbeschreibung s.  demenzrisiko.de).

Bei älteren Pflegebetroffenen geht es meistens darum,  eine vom Pflegedienst beziehungsweise  Betreuer beantragte  freiheitsentziehende Maßnahme,  medizinisch rechtfertigen zu lassen, so z.B. im Falle des Hans G, der auf einer geschlossenen Station eines Pflegeheimes untergebracht wurde, nachdem er mehrmals außerhalb des Heimes aufgegriffen worden war.  Er wollte dort nicht bleiben, wollte nach Hause, wie er immer wieder betonte.  Ärzte hatten dem damals 68jährigen eine Demenz bescheinigt und seine  geschlossene Unterbringung beantragt.  Trotz starker medikamentöser Sedierung wirkte Hans G bei Besuchen von Angehörigen erstaunlich orientiert.  Bei jedem Besuch fragte er, wann  er wieder nach Hause dürfe. Er klammerte sich regelrecht an seine Ex-Frau, als diese signalisierte, ihm helfen zu wollen.  Heimpersonal und Betreuerin intervenierten daraufhin und erteilten der Ehefrau ein Besuchsverbot. Begründet wurde dieses Verbot mit der Vorlage einer einfachen ärztlichen Bescheinigung, in der sinngemäß  stand:  „Der Patient ist nach dem Besuch von Frau G jedes Mal sehr aufgebracht.  Sie macht ihm Hoffnung, wieder nach Hause zu können, was jedoch in seiner Lage ausgeschlossen erscheint.“   Auch uns war es leider nicht möglich, Betreuungsrichter und Verfahrenspflegerin zu einer anderen Haltung zu bewegen.  Sie beriefen sich auf die Angabe des Arztes.  Eine genauere Begutachtung und Bewertung der Gesamtsituation hat es in diesem Verfahren zu keinem Zeitpunkt gegeben.   Lediglich konnten wir erreichen, dass eine Anhörung  stattfand, bei der auch die Schwester des Hans G zugelassen wurde, die sich ebenfalls dafür einsetzte, dass ihr Bruder zu Hause versorgt wird.  Im Ergebnis blieb das Gericht jedoch bei seiner Haltung. Kurze Zeit darauf starb Hans G. Offenbar hatte er die Aussichtslosigkeit seiner Lage erkannt. (Fallbeschreibung: Sicherungsverwahrung)

Absurd  erscheint das Facharztgutachten im Falle des Herrn N.  Das zuständige Betreuungsgericht  hatte das Gutachten in Auftrag gegeben, um festzustellen, ob Herr N zum Zeitpunkt, als er seiner Ehefrau eine  Vorsorgevollmacht  ausgestellt hatte, bereits dement war.  Wie vom Richter erwartet, bestätigt die Gutachterin  diese Annahme. Das uns vorliegende Gutachten weist derart offensichtliche Mängel auf, die darauf schließen lassen, dass die Gutachterin keine inhaltliche Bewertung durch das Gericht befürchten musste, weil der Richter sich nur für die zusammenfassende Empfehlung am Schluss interessiert:  Rund vier Jahre nach Ausstellung der Vorsorgevollmacht befindet eine Fachärztin, dass Herr N höchstwahrscheinlich bereits vor der Operation, die eine Hirnbeeinträchtigung zur Folge hatte,  demenziell beeinträchtigt war.  Sie widerspricht damit den Aussagen der Ehefrau und  ärztlichen Bescheinigungen, die diese vorgelegt hat. Gestützt auf dieses absurde Gutachten setzt das Gericht für die Vermögenssorge einen Berufsbetreuer (Rechtsanwalt) ein.  Von diesem sieht sich die fast 80jährige Ehefrau behandelt wie eine Bittstellerin. Frau N, die sich täglich um ihren Mann, das Haus und alles andere kümmert, will das nicht akzeptieren. Es sei genügend Geld und Besitz vorhanden, so dass keine Notwendigkeit zu solch einer Bevormundung bestand. Herr N, ein pensionierter Polizeibeamter, der immer wieder erklärt hatte,  dass seine Frau sich gut um alles kümmert und er keinen Betreuer will, wird als dement (ohne Verstand) hingestellt und vollständig ignoriert. Auf unser Anraten fährt Frau N mit ihrem Mann zu einem Facharzt eigener Wahl. Dieser bescheinigt Herrn N  Fähigkeiten,  die ihn rehabilitieren müssten.  Das Gericht ignoriert auch diese.  Das Ende des weiteren Beschwerdewegs hat Herr N nicht mehr erlebt, er verstirbt Ende 2017.   Die hochbetrage Frau N bleibt nun zurück mit der Angst, selbst irgendwann in die Fänge der Betreuung zu geraten. Ihr Fazit nach jahrelangen Erfahrungen mit Betreuungsbehörde, Betreuungsgericht und Berufsbetreuer: „Die machen was sie wollen. Da kommt keiner gegen an. Schon gar nicht, wenn er alt ist.“  (Fallbeschreibung s. pflege-prisma.de)

Wir raten

Betroffene, die  sich oder die Situation falsch beurteilt sehen, sollten sich an einen vom Gericht unabhängigen Sachverständigen/Facharzt wenden, am besten bevor das Gericht einen Gutachter bestellt.

Wer den Eindruck hat, dass ein gerichtlich bestellter Gutachter die scheinbar vorgefertigte Meinung des Gerichtes untermauern soll, kann den Richter und den Sachverständigen wegen Befangenheit  und Voreingenommenheit ablehnen und sich auf das Recht berufen, selbst ein ärztliches Gutachten beizubringen.

Wenn der Betroffene dazu selbst nicht in der Lage ist, sollten Angehörige sich entsprechend für ihn einsetzen.  Nochmals weisen wir darauf hin:  Auch wenn bereits eine Betreuung besteht und ein Betreuer eingesetzt ist, hat der Betreute das Recht, sich den  Arzt selbst auszusuchen.  Er muss seinen Betreuer weder um Erlaubnis fragen noch über sein Vorhaben informieren.  Ärzte  müssen nur bei „einwilligungsunfähigen“  Personen nach dem  rechtlichen Vertreter fragen.

Bei Krankenhausaufenthalten bieten sich ebenfalls Gelegenheiten, eine fachärztliche  Zustandsbescheinigung zu erfragen.  Bitten Sie die Ärztin, den Arzt, von dem  Sie sich zutreffend beurteilt sehen, um eine schriftliche Bescheinigung über Ihren Zustand.  Lassen Sie sich jeweils eine Kopie des Arztbriefes aushändigen.

Betreuungsgerichtlich bestellte Gutachten können Ihr Leben ruinieren. Da sollten Sie keine Kosten und  Mühe scheuen, um das abzuwenden.

 

Mehr zum Thema siehe Broschüre: Erfahrung mit rechtlicher Betreuung im Pflegebereich.

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