SPIEGEL-Beitrag entwürdigt Menschen mit Demenz

Foto: Angie Conscious / Pixelio

Mit dem Titel: “Ich wünschte, mein Mann wäre tot.“, veröffentlichte der SPIEGEL im Januar 2022 einen Beitrag von Katrin Seyfert, der Menschen mit Demenz als geistlose „Masse Fleisch“ oder als „sterbliche Überreste mit Vitalfunktion“ beschreibt.  Nicht minder empörend, die Reaktion in den anschließend veröffentlichten Leserbriefen, die das Magazin kommentarlos druckt. Geradeso als sei es an der Zeit, den Lebenswert dieser Kranken öffentlich in Abrede zu stellen.

Bei dem Mann, dessen Tot sich die Autorin (Nikname?) wünscht, handelt es sich um den Ehemann, der mit 50 Jahren die Diagnose Alzheimer bekam und im Empfinden der Ehefrau nur noch als körperliche Hülle vorhanden ist.  Ein Empfinden, das wohl  ihrer  Überforderung als pflegende  Angehörige und Mutter geschuldet ist.  Der Bericht gleicht einem einzigen Hilferuf: „Ich kann nicht mehr. Ich will nicht mehr. Ich wünschte es wäre vorbei. ….. Ich, Ich, Ich, ……  Hört euch an, was mir abverlangt wird. Was ich leiste. Es ist mir unerträglich mit dieser geistlosen Gestalt, die  einst mein Mann war,  zusammen leben zu müssen.“  So verständlich  emotionale Ausbrüche dieser Art sind, sie sollten aus gutem Grunde nicht öffentlich ausgetragen werden.  Auch wenn besagter Ehemann wegen fortgeschrittener Demenz  nicht erfährt, wie seine Frau öffentlich über ihn herzieht und seine Würde in den Schmutz zieht, wird hier eine ethische Grenze überschritten.  Schließlich sucht sich kein Mensch diese Krankheit aus. Wer daran leidet ist schon gestraft genug.   Normalerweise verbieten es Anstand und  Erziehung über  Kranke und Hilfebedürftige zu spotten, geschweige denn deren Tod öffentlich herbei zu wünschen.

In Deutschland leiden derzeit 1,6 Millionen Menschen an Demenz.  Mit ihnen leiden mindestens gleich viele Angehörigen. Wobei dieses Leiden jedoch sehr unterschiedlich ausgeprägt  und oft auch mit schönen Erinnerungen verbunden ist.  Denn:  „Das Herz wird nicht dement.“  In zahllosen Büchern berichten Angehörige von dem „neuen Menschen“, mit zuvor nicht gekannten Eigenschaften. Von der Sensibilität, der Ehrlichkeit und Direktheit oder vom sich Verstehen ohne Worte.  Wer sich als Angehörige auf die Veränderung einlässt, kann daran menschlich wachsen und vieles lernen.  Wer jedoch versucht dem Kranken seinen Tagesablauf aufzudrücken, muss sich nicht wundern, wenn dieser sich emotional zurückzieht und Verhaltensmuster entwickelt,  wie in dem Bericht beschrieben.  So wie störendes Verhalten bei Kindern meist eine Reaktion  auf das Umfeld darstellt, reagieren Erwachsene mit Demenz  auf die Art wie man sie behandelt.

Empörend an diesem Artikel ist weniger der emotionale Offenbarungseid der Autorin, sondern das Fehlen jeder Einordnung.  So wie der Bericht da steht,  spricht er Menschen mit Demenz jede Wertschätzung  ab. Er pflichtet den Lesern bei, die Betroffenen ebenfalls den Tod wünschen und unterstützt eine gefährliche Tendenz.

Verfasserin: Adelheid von Stösser  am 21.02.2022

Zum Spiegel-Artikel: Ich wünschte, mein Mann wäre tot.       Spiegelbeitrag als PDF plus Leserbriefe


Wer die Leserbriefe liest gewinnt den Eindruck breiter Zustimmung. Dass es auch kritische Rückmeldungen gab, die jedoch nicht verlöffentlicht wurden, zeigt der unten einkopierte Brief von Dr. W. Huppert.  Nachdem das Magazin nicht auf sein Schreiben reagierte, wandte sich Herr Huppert  an die Pflegeethik Initiative Deutschland e.V.  Der Verein setzt sich bundesweit für die Wahrung der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen ein.  Da es sich bei Pflegebetroffenen mehrheitlich um Menschen mit Demenz handelt, denen der SPIEGE-Beitrag  sowie die Leserbriefen das Recht absprechen, überhaupt als Mensch gewertschätzt zu werden, sieht sich der Verein gefordert hier Stellung zu beziehen.


Zum Beitrag „Ich wünschte, mein Mann wäre tot“
in: DER SPIEGEL, Nr.2 / 8.1.2022

Von Walter Huppert, Saarbrücken

Endlich habe ich verstanden. Endlich hat mir dieser, in besonderer Weise „unbequeme“ und insofern zum Titelthema des Heftes passende Artikel die Augen geöffnet. Er hat jene Frage beantwortet, die sich mir immer wieder stellt, seit ich vor nunmehr fast drei Jahren meine schwer an Demenz erkrankte Ehefrau in ein Pflegeheim begleitet habe, ohne selbst pflegebedürftig zu sein. Nach langer Zeit häuslicher Pflege sind wir in eine Betreuungseinrichtung gezogen, wo sich meine Frau mittlerweile in stationärer Pflege befindet und wo ich ein separates Zimmer bezogen habe, um in ihrer Nähe zu sein.

Einblicke in die schon immer recht abgeschottete Welt der von fortgeschrittener Demenz Betroffenen und der sie betreuenden Pflegekräfte, die sich mir dadurch eröffnet haben, sind zutiefst verstörend. Und zwar nicht nur wegen des unsäglich beklagenswerten körperlichen und geistigen Zustands, in dem sich die meisten Bewohner*innen im betreffenden Wohnbereichs des Heims befinden.

Das Schockierende und für mich so schwer Verständliche besteht vielmehr darin, dass die Mehrzahl der Kranken auf dieser Station schon immer – und nicht erst seit Beginn der Pandemie – äußerst selten und viele sogar nie (ich wiederhole: nie!) Besuch von Angehörigen oder von eng vertrauten „Zugehörigen“ bekommen.
Völlig ausgeliefert und zurückgelassen sitzen diese Schwerkranken da in ihren Rollstühlen (soweit sie nicht ohnehin längerfristig bettlägerig sind). Sie verharren Monate oder jahrelang in einem Zustand, den die Autorin sich nicht scheut, als „sterblichen Überrest mit Vitalfunktion“ zu bezeichnen. Auf Betreuungsangebote des Heims wie Musik, Spiele und die – angesichts des permanenten Mangels an Pflegekräften – ohnehin nur seltenen und kurzen persönlichen Gespräche mit den Pflegenden können sie in der Regel nur bedingt eingehen. Letztlich befinden sie sich in einem niederdrückenden Nebel aus realer und imaginierter Wahrnehmung der Wirklichkeit und  sind gefangen in einer bodenlosen Einsamkeit und in einem wahren Fegefeuer an Ängsten und Unsicherheiten.

Können wir als zivilisierte Gesellschaft das so akzeptieren? Denn andererseits sind demente Menschen, auch wenn sie sich im fortgeschrittenem Stadium ihrer Erkrankung befinden, weit davon entfernt, jenem „sterblichen Überrest mit Vitalfunktion“ zu entsprechen, den die Verfasserin des Beitrags, wie schon erwähnt, mit einer entwürdigenden und  geradezu unmenschlichen Kälte ihrem dementen Ehemann unterstellt.

Eines ist unübersehbar und wird in vielen Begegnungen mit Demenzkranken in anrührender Weise deutlich: ihre Mitteilungsfähigkeit, ihr Erinnerungsvermögen und andere  kognitiven Fähigkeiten mögen in beklagenswerter Weise reduziert und bruchstückhaft sein, ihr Fühlen und ihr Bedürfnis, in Bezug zu anderen Menschen Nähe, Wärme und Wertschätzung zu erfahren, bleiben erhalten und werden zu einem zentralen Sicherungsseil ihres Selbst im Nebel ihrer von Wahrnehmungsstörungen bestimmten Existenz.

Aber wo sind sie, die engsten Angehörigen und Vertrauten dieser schwer Erkrankten, die ihnen einen solchen Halt geben können? Wo sind die, die ihr pflegebedürftiges  Familienmitglied einem Pflegeheim anvertraut haben, nachdem sie es oft über längere Zeit zum Teil aufopferungsvoll zuhause selbst gepflegt haben? (Immerhin werden nach Angaben des statistischen Bundesamtes drei Viertel der Pflegebedürftigen allein oder mehrheitlich durch Angehörige zu Hause versorgt).

Wenn ich mich bisher bemüht habe, Verständnis für diese scheinbare Pflichtvergessenheit der Angehörigen aufzubringen, habe ich  mich immer an den vielen unterschiedlichen und fallspezifischen Erklärungen festgehalten, die diesem Phänomen tatsächlich zugrunde liegen können: Im Einzelfall mag es für hochbetagte Betroffene keine Angehörige oder Zugehörige mehr geben; in anderen Fällen mögen große räumliche Entfernungen des Heims zum Wohnort der Verwandten eine Rolle spielen oder berufliche, finanzielle Überlastung und auch familieninterne Beziehungskonflikte können den Ausschlag geben. Schließlich mag auch die Tatsache maßgebend sein, dass der dementielle Prozess einen Punkt überschritten hat, ab dem die von Demenz Betroffenen ihre Angehörigen nicht mehr erkennen und an schwerwiegenden Verhaltens- und Persönlichkeitsveränderungen leiden, mit denen auch wohlmeinende nahe Verwandte nicht mehr umgehen können, so wie es der Autorin des hier besprochenen Beitrags offensichtlich ergeht.

Allerdings habe ich immer schon vermutet, dass mehr dahinter steckt, als solche  fallspezifischen Ursachen, wenn der schweren Demenz im Hinblick auf private Solidarität und bezüglich öffentlicher und medialer Anteilnahme nur das Schattendasein einer weitgehend stigmatisierten Krankheit zukommt.

Insofern liefert der genannte Beitrag des SPIEGEL , so zumindest lese ich ihn – in einer rabiaten Offenheit, die den Atem stocken lässt – den eigentlichen Schlüssel zur Klärung meiner Frage und damit zum Bewusstmachen eines tabuisierten gesellschaftlichen Versagens. Indem die Autorin in ihrem an Demenz erkrankten Mann nichts anderes mehr sehen kann als eine geistlose „Masse Fleisch“, mit der sie künftig zu einem familiären Treffen wird fahren müssen, zeigt sie, was sich hinter ihrer eigenen, so sehr betonten „prämortalen Trauer“ verbirgt. Dort offenbart sich eine abgrundtiefe individuelle Empathielosigkeit ihrem schwerkranken Ehemann gegenüber, die, so kann man nur hoffen, allein (und nachvollziehbar) in der plötzlichen und extremen Überlastung und Hilflosigkeit dieser berufstätigen Frau und Mutter ihren Ursprung hat. Die offene und schonungslose Art, mit der sie diese persönliche Haltung zu  artikulieren wagt – und die vom SPIEGEL einer Veröffentlichung wertgefunden wird – deutet jedoch darauf hin, dass eine solche verbale Verrohung mit einer moralischen Verwahrlosung auf gesellschaftlicher Ebene in Verbindung steht und von ihr getragen wird.   Diese offenbart sich unter anderem in einer abgrundtiefen Gleichgültigkeit, mit der ein Großteil der Bevölkerung dem Schicksal von ihnen nahestehenden Menschen gegenübersteht, die an fortgeschrittener Demenz leiden. Unausgesprochen und weithin guten Gewissens folgt man einer Haltung, die von der Autorin einem „gut gemeinten“ ärztlichen Rat zugeschrieben wird, der darin besteht, diese Kranken „wie ein Möbelstück zu betrachten“, das man in eine Abstellkammer, das Pflegeheim, abschieben kann, sobald es den ihm zugedachten Zweck nicht mehr erfüllt.

Demgegenüber betont der Freiburger Arzt und Professor für Medizinethik Giovanni Maio:

Entscheidend ist die Frage, ob wir in einer Gesellschaft leben, in der kranke Menschen wirklich als wertvolle Menschen wahrgenommen werden. Entscheidend ist, ob wir es schaffen, eine Kultur der Zuwendung auf den Weg zu bringen, in der sich der schwer kranke Mensch gerade nicht entwertet fühlt, sondern durch die Sorge seiner Mitmenschen sowie durch eine Medizin, die die Beziehung in ihren Mittelpunkt stellt, eine neue Bedeutung erfahren kann.“[1]

Es bleibt zu wünschen, dass der genannte Artikel vom SPIEGEL bewusst als Provokation lanciert worden ist und dass man damit eine bestimmte Absicht verbunden hat. Nämlich die, einem im privaten und gesellschaftlichen Diskurs peinlich unterdrückten Thema, dem jedoch angesichts der demographischen Entwicklung in den nächsten Jahrzehnten enorme Bedeutung zukommen wird,  jetzt und in Zukunft stärker zur Diskussion zu stellen und ihm größere Aufmerksamkeit zu widmen: der zunehmenden Zahl pflegebedürftiger Menschen, die von einer schweren Demenzerkrankung betroffen sind und sein werden sowie der befremdlichen Tendenz ihrer Angehörigen, sie wie ein altes Möbelstück in einem Pflegeheim „zu entsorgen“ um sich dann nicht weiter um sie zu kümmern.

Sollte der Artikel einer solchen Absicht seine Veröffentlichung verdanken, dann sei dem „unbequemen“ SPIEGEL dafür mein Dank und Respekt ausgesprochen.
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[1] Aus: Giovanni Maio „Den kranken Menschen verstehen“, Überarbeitete Neuausgabe, Verlag Herder GmbH, 2020

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