Erich Grond: Entstehungsbedingungen der Demenz

Prof.Dr.med. Erich Grond ist deutschlands bekanntester Experte und Buchautor rund um das Thema Pflege und Demenz.   Trotz seines Alters (Jahrgang 1929) ist Grond immer noch ein gefragter Redner auf Pflegekongressen, wie dieses Video-Interview bestätigt.  Sein Buch: Die Pflege verwirrter alter Menschen, Lambertus-Verlag – 9. Auflage 2003,  gehört zu den Standardwerken der Aus- und Fortbildung im Beruf der Altenpflege.  Ich selbst habe ihn mehrfach bei Vorträgen erlebt und auch schon mit ihm korrespondiert und telefoniert.  Die Ansichten dieses Arztes zur Demenz zeugen von einem unabhängigen Geist, der seine eigene Lehrmeinung vertritt, zumal die Alzheimerforschung  weder seine Meinung widerlegen noch eine bessere aufweisen kann.

Verwirrtheit und Pflegebedürftigkeit stellen angesichts einer immer älter werdenden Bevölkerung hohe Anforderungen an pflegende Familienangehörige, ambulante, stationäre und teilstationäre Pflegedienste. Der Autor beschreibt in diesem Buch ausführlich die Entstehungsbedingungen der Demenz. Er geht davon aus, dass Verwirrtheit bei alten Menschen grundsätzlich zu bessern oder zu beseitigen ist. Aufgrund seiner medizinischen Kenntnisse und praktischen Erfahrungen ist er in der Lage, das nötige Wissen über diese Krankheit zu vermitteln. Er informiert detailliert über die körperlichen, psychischen, sozialpsychologischen und Umwelt-Faktoren, die zur Verwirrtheit führen können.“ (Der Verlag über das Buch)

Mit freundlicher Genehmigung des Autors, zitieren wir hier einige für unsere Kernaussage relevante Passagen aus „Die Pflege verwirrter alter Menschen“:

Kapitel II.
Psychosoziale Faktoren, die zur Verwirrtheit führen
Verwirrtheit als Folge von Distress

Stress ist die unspezifische Reaktion des Körpers auf eine Anforderung; Stress läuft in drei Phasen ab: Alarm-, Widerstands- und Erholungsphase. Stress ist lebensnotwendig. Distress ist schädlich, wenn er zu lange anhält oder subjektiv als zu belastend erlebt wird.

Welche Stressoren können zur Verwirrtheit beitragen?

(1) Verlust von Beziehungen, von Gesundheit und Besitz.
(2) Zurückweisung
(3) Machtlosigkeit gegen Bedrohung von Gesundheit und Leben, gegen Ungewissheit und gegen die Macht anderer.
(4) Soziale Stressoren: Verlust von Status und Rolle, Benachteiligung, Rollenumkehr, Einweisung, Isolation u.a.
(5) Gesellschaftliche Stressoren: Vorurteile und Erwartungen vom geistigen Abbau alter Menschen, schneller technischer Wandel u.a.

Bei zunehmender Beanspruchung durch ungenügenden Stressabbau droht Verwirrtheit.

Ob eine Belastung zum Distress wird und zur Verwirrtheit führt, hängt nicht von der objektiven Schwere der Belastung ab, sondern von der subjektiven Bedeutung, wie z.B. Verluste erlebt oder eingeschätzt werden. Verluste, Zurückweisung und Machtlosigkeit werden erst zum Distress, wenn sie intensive Gefühle wie Befürchtungen, Ängste, Trauer usw. auslösen, also als belastend eingeschätzt werden.

Weil Ältere eine Belastung langsamer verarbeiten als Erwachsene, trifft ein erneuter Stress den Vorgeschädigten oft in einer Zeit, in der er sich noch nicht erholt oder zurückgezogen hat, sodass seine Bewältigungsmechanismen oder Daseinstechniken schnell erschöpft sind, besonders wenn die spätere Belastung als besonders bedrohlich erlebt wird. Die Reaktion kann dann Verwirrtheit sein.

Die chronische Krise entwickelt sich in fünf Phasen:

(1) Vor der Krise: Der Ältere hat erstarrte, wenig flexible Problemlösungsstrategien.
(2) Belastung wird als überwältigend erlebt, die bisherigen Daseinstechniken versagen, dieses Erlebnis kann verwirren.
(3) Abwehr mit Rückzug und Regression zu alten Abwehrformen.
(4) Erneute Belastung erschöpft alle Anpassungsfähigkeiten, der Belastete wird um so eher verwirrt, je mehr er sich bedroht fühlt.
(5) Anpassung mit neuen Daseinstechniken oder Übergang in chronischer Verwirrtheit.

Als bedrohlich einschätzt werden Belastungen, die sich in kurzer Zeit häufen: Trennung oder Tod des Partners, Heimeinweisung, Umzug oder Pensionierung und Verschlimmerung einer Erkrankung . Diese Krisenfaktoren sind abhängig vom Krankheitsstadium, der wirtschaftlichen Lage, Kommunikation und Stellung in Familie oder Heim und stehen in dauernder Wechselwirkung mit den Familienangehörigen und Pflegenden. Die Entwicklung und Überwindung der Krise verläuft in drei Stadien:

Erstes Stadium: Krisenwahrnehmung – Verstandsreaktion fremdgesteuert – verwirrt.
Zweites Stadium: Krisenerlebnis – Gefühlsreaktion ungesteuert – aggressiv verwirrt.
Drittes Stadium: Sinn und Zielfindung – selbst gesteuerte Handlung – geordnet, klar.

Die Wahrscheinlichkeit, verwirrt zu reagieren, ist um so größer, je unzureichender die Ressourcen sind.

Ressourcen

(1.) Fähigkeiten, Fertigkeiten, Stärken und Kräfte:

(1.1.) Vorbeugende Gesundheitsorientierung und körperliche Rüstigkeit ist neben geistiger Rüstigkeit oberstes Ziel.

(1.2.) Wissen und Kenntnisse.

(1.3) Unabhängigkeit, Selbstständigkeit, Kontinuitätsgefühl.

(1.4.) Daseinstechniken (Coping-Mechanismen): aktives, rationales und flexibles Handeln, Fähigkeit, Aktivität zu steigern, Durchprobieren von Möglichkeiten, alternatives Denken und Handeln, kleine Schritte und nur eine Stufe auf einmal, sich selbst belohnen, sich beruhigen, sich entspannen, erholen, Aufgreifen gegebener Chancen, auf andere zugehen, an sie appellieren, Hilfe suchen, auf andere vertrauen und sich auf sie verlassen, soziale Kontakte pflegen und stiften, sich an die soziale Umwelt anpassen, sich selbst beschränken, sich beherrschen, auf eigene Wünsche verzichten, eigene Bedürfnisse zurückstellen zu Gunsten anderer, eigenes Anspruchsniveau und Erwartungen korrigieren, gegen Druck von außen Widerstand leisten, eigene Wünsche und Bedürfnisse verwirklichen oder sogar durchsetzen. Vorwürfe anderer intellektuell verleugnen, nicht wahrhaben wollen, aktiv vergessen und sich innerhalb davon distanzieren, die Situation, so wie sie ist, mit Humor akzeptieren, die Situation positiv deuten, aus Unglück oder Missgeschick Stärkung holen, die Situation den Umständen überlassen, auf Wende hoffen, sich mit Zielen und Schicksalen anderer identifizieren, sich in Phantasien zurückziehen, aus dem Felde gehen, Unangenehmes vermeiden, Schuld anderen zuschreiben, Trauer zulassen, Gefühle und Beschwerden äußern.

(1.5.) Selbstvertrauen auf Grund der Erfahrung, wie frühere Konflikte oder Probleme bewältigt werden, Selbstwertgefühl.

(2.) Sinnorientierung an weltanschaulichen Werten (Glaube, Hoffnung, Liebe) und haltgebenden Normen oder an Erlebenswertem (Kultur, Kunst, Natur).

(3.) Ökonomische Ressouren (Besitz, finanzielle Mittel, Einkommen).

(4.) Soziale Beziehungen und Integration in einem sozialen Netz (Familie, Freunde, Bekannte, Kollegen).

(5). Gestaltung der Umwelt im Hinblick auf Realitätsorientierung, z.B. mit Uhren, Kalender, Orientierungstafel, Farbsystemen usw.

Nicht jeder Ältere, der z.B. an einer Pneumonie erkrankt, wird verwirrt, sondern nur derjenige, der diese Erkrankung als lebensbedrohliche Krise erlebt. Dabei greift er zunächst auf alte Problemlösungsstrategien zurück. Je mehr Ressourcen er in der eigenen Widerstandsfähigkeit, in eigenen anderen Daseinstechniken und in der Umwelt hat, um so schneller und besser wird er eine etwaige Verwirrtheit überwinden. Die durch bedrohlich erlebte Belastungen bedingte chronische Verwirrtheit ist im Verlauf abhängig von Begleitkrankheiten. Einwirkung von Medikamenten, vom Ausmaß der Kommunikationsstörung mit Angehörigen oder Pflegenden, von der eigenen Verletzlichkeit bei gekränktem Selbstwertgefühl und von noch funktionierenden Daseinstechniken.

Verwirrtheit als unbewältigtes psychisches Problem

1.Tiefenpsychologische Erklärungsversuche der Verwirrtheit

1.1. Verwirrtheit als Abwehr- oder Anpassungsversuch

Die Hauptabwehrmechanismen der Verwirrtheit sind:

(a) Verleugnung:                    Da der Verwirrte die objektive Wahrnehmung nicht einordnen kann, verleugnet er sie: Vogel-Strauß-Politik.

(b) Regression:                       Der Verwirrte greift auf alte, frühere Verhaltensweisen zurück, die für andere unangemessen erscheinen.

(c) Reaktionsbildung:           Unerträgliche Erlebnisse werden ins Gegenteil verkehrt, z.B. „Ich bin hier nicht zu Hause!“

(d) Wahnhaft Verwirrte projizieren eigene Probleme auf andere:    „Nicht ich habe es verlegt, sondern ihr habt es gestohlen!“

(e) Verschiebung:                   Der Verwirrte ersetzt bedrohliche Erlebnisse durch harmlosere und verkennt so seine Umwelt.

(f) Aus-dem-Felde-Gehen:    Der Verwirrte flieht aus der Realität, weil er sie als unerträglich erlebt.

(g) Rationalisierung:               Der Verwirrte lernt, sein Durcheinander als Alibi oder Entschuldigung für sein Versagen anzuführen.

(h) Rache:                                Verwirrte suchen sich durch Desorientierung an unfreundlichen Pflegenden zu rächen.

1.2. Verwirrtheit als Versagen der bisherigen Abwehrmechanismen

(a) Wenn ein Älterer seine Leistungseinbußen, z.B. Vergesslichkeit, Sinnes- und Bewegungsbehinderung, nicht mehr verleugnen kann, weil sie so offensichtlich sind, zieht er sich manchmal gekränkt in Verwirrtheit zurück.

(b) Wer als Erwachsener Gefühle und Bedürfnisse, z.B. Wut, Zorn, Zärtlichkeits- und sexuelle Bedürfnisse, abwehren und kontrollieren konnte, erlebt bei zunehmender Demenz, dass die bisherige erfolgreiche Abwehr nicht mehr so funktioniert wie früher. Stimuliert durch Fernsehsendungen wird die demente Person manchmal plötzlich aggressiv und greift Angehörige oder Pflegende an. Sie kennt sich selbst nicht wieder und wird verwirrt. Durch Reklame, Illustrierte werden auch Ältere sexuell erregt bis hin zur Selbstbefriedigung. Das erleben sie als Triebdurchbruch, Kontrollverlust, schämen sich vor sich selbst und werden verwirrt. Oder wenn Männer und Frauen im Heim streng getrennt werden, können alte homosexuellen Regungen aktiviert werden, die verwirren.

(c) Ältere können Angst und Konflikte nicht so wie Jüngere verarbeiten. Wenn sie die Realität nicht mehr exakt sehen oder hören, können sie nicht mehr realistisch entscheiden. Wenn sich ihre Entscheidung als falsch erweist, reagieren sie verwirrt. Ältere haben eine geringere Frustrationstoleranz, d.h. sie können z.B. Hunger schlecht aufschieben und reagieren auch durch die Unterzuckerung verwirrt. Ältere können ihre Bedürfnisse seltener auf andere Ziele verschieben, weil sie ärmer sind. Sie können weniger sublimieren, weil man sich über höhere Ziele, die sie äußern, oft lustig macht.

(d) Ältere mit einer leichten kognitiven Beeinträchtigung können ihre Angst nicht mehr mit einer Neurose abwehren, sondern oft nur psychosomatisch (Nachverdrängung ins Körperliche) oder mit Verwirrtheit reagieren, weil Verdrängung im Alter schwierig wird.

1.3 Verwirrtheit als Ich-Schwäche.

Wodurch entsteht die Ich-Schwäche Älterer? Sie nehmen zum einen weniger wahr, verarbeiten langsamer, können sich schlecht ausdrücken , weil ihnen die passenden Worte nicht einfallen. Andererseits haben sie nicht gelernt, über Gefühle zu sprechen, bisherige Problemlösungsstrategien versagen, oder sie sind nicht geübt, in Alternativen zu denken.

  1. Verwirrtheit als mangelnde Bedürfnisbefriedigung

Wenn Ältere daran gehindert werden, ihre Bedürfnisse zu befriedigen, können sie verwirrt reagieren.

  1. Verwirrtheit als Selbstwertkrise

Wenn Ältere in ihrem Selbstwertgefühl verunsichert werden, können sie mit Verwirrtheit oder mit Suizid reagieren. Gefährdet ist, wer verunsichert ist:

  1. a) im Selbsterleben, d.h. wer sich minderwertig oder hilflos fühlt;
  2. b) in seinem Ich-Ideal, d.h. wer die früheren hohen Ansprüche an sich selbst nicht mehr erfüllen kann und sich deshalb als Versager fühlt;
  3. c) in der Realitätskontrolle, d.h. wer nicht-sprachliche Signale schlechter sieht oder hört, fühlt sich leichter gekränkt, besonders wenn er infolge einer leichten kognitiven Beeinträchtigung die Wahrnehmung schlechter verarbeiten kann. Wer die Realität nicht mehr überprüfen kann, idealisiert sich und seine Umgebung so wie sie früher war, d.h. er kann nur in der Vorstellung der Vergangenheit überleben und erscheint so verwirrt;
  4. d) in der Aggression, die ihn verwirrt, weil er spürt, wie groß sie ist, und weil er fürchtet, dass er wegen seiner Wut vom eigenen Gewissen verurteilt wird;
  5. e) in den zwischenmenschlichen Beziehungen, d.h. wer glaubt. einen Liebes- oder Zuwendungsverlust nicht ertragen zu können, versucht durch Krankheit oder Verwirrtheit das Gefühl, angenommen zu sein, zurückzugewinnen: Verwirrtheit als Appell.

Im Selbstwertgefühl verunsichert werden Ältere durch Umweltfaktoren: Einerseits wird Frühpensionierung gefördert, andererseits werden Rehabilitationsunwillige abgewertet. Sie sollen sich bewegen, werden aber eingesperrt, sie werden mit Spielen beschäftigt, bei sinnvollen Tätigkeiten dürfen sie nicht mithelfen. Sie sollen ihre Selbstständigkeit erhalten, werden aber überversorgt; solche Widersprüche können verwirren, weil sie als Abwertung erlebt werden. Verhält sich ein Älterer nicht wie erwartet, wird er schnell sanktioniert. Das macht ihn aggressiv. Pflegende fühlen sich persönlich angegriffen und isolieren ihn. So fühlt sich der Gekränkte bestätigt in seiner feindseligen Abhängigkeit, was von den Pflegenden wieder als Zurückweisung aufgefasst wird.

Aus den verletzten Gefühlen folgt enttäuschte Abkehr voneinander.

Wer mit seiner Bezugsperson in einer Symbiose gelebt hat, wird bei Tod oder Trennung verwirrt reagieren, weil er glaubt, ohne den anderen nicht mehr zurechtzukommen. Wer in seinem Selbstwertgefühl stark gekränkt ist, sehnt sich danach, in die erste Symbiose mit der Mutter zurückzukehren. Die Mutter wurde als die einzige Person erlebt, die das Selbstwertgefühl steigerte. Deshalb möchten Verwirrte zurück zur Mutter, oder sie erwarten, dass die Mutter kommt! Verwirrtheit selbst wird als Kränkung erlebt. Je mehr sich eine Verwirrter in seinem Selbstwert verletzt fühlt, umso größer ist sein Leidensdruck. Wenn der Verwirrte seinen Selbstwert nur noch durch Rückzug ein eine Phantasiewelt, z.B. in die Vergangenheit zu retten glaubt, weil sein Selbstwertgefühl in der gegenwärtigen Realität zusammenbricht, kann Verwirrtheit als Suizidersatz aufgefasst werden.

  1. Verwirrtheit als Identitätsverlust

Verwirrtheit als Verlust der biographisch gewordenen Identität:

Nur biographische Kontinuität gewährleistet individuell erfolgreiches Altern. Wer plötzlich Diät einhalten soll, krank wird, seinen Partner oder seine Bezugsperson verliert, gewohnte Aktivitäten oder seine Wohnung aufgeben muss oder Sozialhilfeempfänger wird, verliert seine lebensgeschichtliche Kontinuität und kann verwirrt werden, weil die bisherige stetige Entwicklung einen Einschnitt, einen Abbruch erleidet. Wer ins Heim kommt, soll alles, was ihm lieb geworden ist, aufgeben, soll sich unterordnen, ein anderer Mensch werden. Bei 1/3 der gegen ihren Willen ins Heim Eingewiesenen kam es zur Verwirrtheit. Wer bisher glaubte, anderen überlegen, etwas Besonderes zu sein, kann nach zahlreichen Verlusten nicht mehr Beifall oder Bewunderung erwarten, sondern muss mit anderen zusammenarbeiten, das kann ihn auch verwirren.

Verlust der personalen Identität verstärkt Verwirrtheit.. Wenn Pflegende über den Kranken in der dritten Person statt mit ihm reden, ihn duzen, als sinnlos Handelnden bevormunden, ihn unpersönlich wie eine Pflegepuppe „fertig machen“ kann er sich nicht mehr als Person fühlen. Die personale Identität wird verletzt, wenn er ungefragt mit einem Fremden das Zimmer teilen muss, wenn die Tür ohne anzuklopfen geöffnet wird, wenn er als Inkontinenter bei der Intimpflege von und vor Fremden aufgedeckt wird.

Verlust der häuslichen Identität trägt zur Verwirrtheit bei: Wer eingesperrt wird, weil er weglaufen könnte, wem Habseligkeiten als gefährlich oder unhygienisch weggenommen werden, z.B. Haustiere, Blumen, wer abgewertet wird, weil er sich wehrt, gebadet zu werden, wer dafür, dass er mithelfen will, diszipliniert wird, möchte „nach Hause“.

Verlust der sozialen Identität: Kranke, mit denen Pflegende nicht mehr kommunizieren, weil sie nur „dummes Zeug“ reden, werden verwirrt, vereinsamen, empfinden sich als überflüssig, sozial schon tot. Das Gefühl, „für mich interessiert sich keiner mehr“, ist schlimmer als das Gefühl abgelehnt zu werden, weil das noch Gegenaggression ermöglicht.

In einem Pflegeheim wurde eine Pflegerin entlassen, weil sie eine alte Dame auf deren Wunsch duzte, nachdem sie diese ein halbes Jahr gepflegt hatte. Um persönliche Kontakte zu Kranken zu unterbinden, wurde wöchentlicher Personalwechsel angeordnet: „Verordneter sozialer Tod“?

Identitätsverlust, weil die 5 Identitätssäulen brüchig werden.

  1. Verwirrtheit als mangelnde Wahrnehmung und Integration von Gefühlen

Ältere können verwirrt reagieren, wenn sie starke gegensätzliche Gefühle wie Liebe und Hass, Zuneigung und Wut, so genannte „gute“ und „böse“ Gefühle unversöhnlich und unüberbrückbar erleben, sich hin und her gerissen fühlen zwischen ihren Gefühlen und ihrem nüchternen Denken, sich nicht akzeptieren, wenn sie ihre Wut nicht mehr unterdrücken können, oder wenn sich nicht wahrhaben wollen, schwach zu sein, zu versagen, Schattenseiten, Fehler und Schuld neben positiven Eigenschaften zu haben. Wer im Alter immer mehr erfährt, wie einsam er ist, dass er allein sterben muss, kann verwirrt reagieren.

Wer als Verwirrter sachlich nach Wochentag und Datum gefragt wird, ohne seine Gefühle äußern zu dürfen, erlebt sich nur angenommen, weil er – wie früher im Beruf – etwas geleistet hat.

Folgende Gefühle können zur Verwirrtheit beitragen, wenn hilfebedürftige Alte glauben, sie nicht aussprechen zu dürfen:

a) Befürchtungen und Ängste:

  • Angst vor Kontrollverlust, vor Verlust der Unabhängigkeit und Selbstständigkeit, wenn der alte Mensch merkt, dass er weniger wahrnimmt und Probleme nicht wie früher lösen kann. Angst, verlassen zu werden vom Partner, von Verwandten, Freunden und Bekannten (Trennungsängste),
  • Angst vor sozialer Isolation, vor Heimeinweisung.
  • Angst, die Rolle und Bedeutung in der Familie und die Unterstützung durch die Familie zu verlieren. Angst vor Unvorhersagbarem, vor Unbestimmten, z.B. wie lange die Bettruhe, die Schmerzen, die Inkontinenz dauern können.
  • Angst vor dem Verwirrt- oder Verrücktwerden. Angst vor Unsicherheit. Sobald ein Älterer krank wird, fühlt er sich im Leben bedroht, oder er fühlt sich zu Hause oder im Heim nicht sicher versorgt.
  • Furcht zu verarmen, Pflegende nicht bezahlen zu können, den Kindern nichts vererben zu können. Furcht, in der körperlichen Beweglichkeit immer mehr eingeschränkt zu werden, d.h. steif zu werden.
  • Furcht vor erzwungener Untätigkeit, vor täglicher Monotonie und davor, nicht mehr mitentscheiden zu können.
  • Furcht vor dem Nachlassen der geistigen Kräfte, vor weiterem Gedächtnisverlust. Furcht davor, als unzurechnungsfähig erklärt zu werden.
  • Furcht, in seinen Klagen über Schmerzen, Frieren, Hunger oder Unbequemlichkeit nicht ernst genommen oder ignoriert zu werden.
  • Furcht, Privatheit zu verlieren, d.h. persönliche Atmosphäre, körperliche Abgrenzung, Intimität entbehren zu müssen, und keine Möglichkeit zu haben, sich erholen oder entspannen zu können.
  • Furcht vor den Launen und der mangelnden Redlichkeit der Pflegenden, dass sie Versprechungen, z.B. ausgehen zu dürfen, nicht halten oder sich unvorhersehbar verhalten.
  • Furcht, mangelhaft informiert zu werden, dass ihm etwas vorenthalten oder eingeredet wird, was er nicht will. Furcht, abgewiesen oder vergessen oder wie andere Verwirrte verspottet oder ausgelacht zu werden oder gleichzeitig als reines Pflegeobjekt behandelt zu werden.

b) Trauer, Gram, Schmerz über den Verlust einer Bezugsperson werden direkt nach dem Verlust infolge des Schocks verleugnet. Auf die nüchtern kontrollierte Phase folgt die regressive Identifikation mit der verlorenen Person, Schuldgefühlen, Depression. In der Anpassungsphase sieht er den Verlorenen realistisch, kann Abschied nehmen und neue Beziehungen aufbauen.

c) Machtlosigkeit, Ohnmacht, Abhängigkeit führt zu dem Gefühl, von sich selbst entfremdet zu werden, sich nicht kontrollieren zu können, passiv und interesselos oder egozentrisch zu werden.

d) Hilflosigkeit wird immer mehr erlernt, je weniger sich der alternde Mensch selbst zutraut. Je hilfloser, um so depressiver oder verwirrter wird er, kann mit der Hilflosigkeit aber andere an sich binden.

e) Hoffnungslosigkeit: Der Kranke fühlt sich nutzlos, als Last, überflüssig, leer, sinnlos. Wenn sein Selbstwertgefühl verletzt ist, droht Suizid.

f) Ambivalenzgefühle: Widersprüchliche, gespaltene, rätselhafte, schwankende, gleichzeitig gute und böse oder andere gegensätzliche Gefühle verwirren leicht.

Welche Gefühle bedrängen die verwirrte Person?

  • Angst, nicht zu verstehen oder nicht verstanden zu werden, zurückgewiesen, abgewertet oder gleichgültig vergessen zu werden.
  • Ohnmacht, Hilflosigkeit und Unsicherheit nehmen zu.
  • Kränkung des Selbstwertgefühls und Trauer über seine Verluste.

Zeitlich verwirrt heißt: „Ich möchte so sein wie früher!“

Situativ verwirrt heißt: „Ich bin unsicher, wer Sie sind!“

Persönlich verwirrt heißt: „Ich fühle mich anders, der bin ich nicht!“

Appell an uns, ihn anzunehmen, wie er ist, und Bitte um Hilfe.
Verwirrt wird, wer vergangene Probleme nicht bewältigen, gegenwärtige Gefühle nicht durchschauen oder annehmen kann und keinen Sinn in der Zukunft sieht, d.h.,
Verwirrtsein im Alter kann eine normale Reaktion sein, muss nicht auf einer Erkrankung oder gar auf einer Demenz beruhen.

  1. Verwirrtheit als erlerntes Fehlverhalten

Lerntheoretiker erklären Verwirrtheit als erlerntes Fehlverhalten. Es wird als Gewohnheit erlernt, durch das Erleben des Verwirrten („Wenn ich verwirrt bin, erhalte ich Zuwendung und Mitleid oder werde in Ruhe gelassen“) oder durch das Verhalten der Pflegenden, die sich in ihrem Gefühl, eine guter Helfer zu sein, bestätigt fühlen oder ihr Bedürfnis nach Abwechslung befriedigen. Nach der Verhaltensgleichung SORKC wird das Reagieren R eines Menschen durch Außenreize (S= Stimulus), Organismus (O), Kontingenz (K = unmittelbare Verknüpfung ) und Folgen (C = Konsequenzen) bestimmt.

Lerntheoretisch wird Verwirrtheit verstärkt, wenn

  1. Wahrnehmung , Gedächtnis, Orientierung und Ausgleichsleistungen mangelhaft trainiert werden;
  2. der Kranke durch zu viele Reize, z.B. Dauerlärm überflutet wird;
  3. er Zurückweisung (Bestrafung) durch Pflegende erfährt;
  4. er vermehrte Zuwendung wegen Verwirrtheit bei sich (Lernen am Erfolg) oder bei Mitbewohnern (Nachahmungslernen) erlebt.

Verhaltenstherapeutisches Kompetenztraining kann Verstärkerbedingungen ändern und Verhaltensdefizite bei Verwirrten bessern. Je überzeugter, engagierter und konsequenter die Pflegenden mit Verwirrten kurz und regelmäßig üben, nicht verwirrtes Verhalten belohnen und verwirrtes Verhalten nicht beachten, ignorieren, umso eher können selbst demente Personen noch kleine Schritte lernen.

Verwirrtheit in Folge eines mehrdimensional Bedingten geistigen Abbaus

Geistiger Abbau bis zur Verwirrtheit ist multifaktoriell und komplex bedingt. Nach Lehr ist ein früher Abfall der Intelligenz nachweisbar, wenn folgende Faktoren zusammenwirken:

Geringe Ausbildung.

Geringes Training, geringe Herausforderung im Erwachsenenalter, z.B. weibliche Rolle, negatives Altersstereotyp.

Anregungsmangel, Reizverarmung: langjährig Hospitalisierte in Heimen, Gefängnissen, Landeskrankenhäusern hatten um so eher eine Hirnatrophie, je weniger sie psychosozial stimuliert waren, so wie auch Muskeln schrumpfen, die nicht bewegt werden.

Geringe Sozialkontakte.

Subjektiver Gesundheitszustand: beeinträchtigt auch die Lernbereitschaft.

Subjektive Einschätzung (kognitive Repräsentanz), nicht objektive Belastungen, z.B. durch eine Krankheit. D.h., wie sich der Kranke in dieser Situation erlebt, führt bei negativer Selbsteinschätzung und mangelndem Zukunftsbezug zu geistigem Abbau.

Individuelle Unterschiede werden mit zunehmendem Alter immer größer: es gibt schon 40-jährige, die interesse- und antriebslos sind infolge Erziehung, negativem Selbsterleben, mangelndem Training oder eingeschränktem Verhalten, weil Umstellungen wie Krankheit, Partnerverlust oder Umzug nicht vorwegnehmend geübt wurden.

Geistiger Abbau ist biographisch zu verstehen: Ledige Frauen entwickeln ihr Selbstverständnis aus dem Beruf, während Frauen, die ausschließlich für Mann und Kind lebten, bei Verwirrung eher intellektuell verkümmern als Frauen, die sich von den gesellschaftlichen Erwartungen abgrenzen und sich unabhängig halten. Frauen, die ihr Leben überwiegend negativ, eingeengt, als unbedeutsam, fremdbestimmt, als unabänderlich erlebten und mögliche Ereignisse nicht vorwegzunehmen lernten, die sich von der Umwelt abwandten und keine Daseinstechniken übten, waren durch ihren Lebenslauf eher geistig abgebaut als Frauen, die eine gegenteilige Einstellung hatten. Dass der eine 75-jährige geistig rüstig und der andere abgebaut bis verwirrt erscheint, beruht vorwiegend auf der unterschiedlichen Biographie, nicht so sehr auf der Ausgangsintelligenz. Nicht wie viele Belastungen ein Alternder durchgemacht hat und wie schwer sie waren, trägt zum geistigen Abbau bei, sondern wie er sich mit den Belastungen auseinander gesetzt und sie bewertet hat (kognitive Repräsentanz).

Ob es zum geistigen Abbau mit Verwirrtheit kommt, ist nicht nur von der Biographie, sondern auch von der gegenwärtigen Situation (Gesundheit, Erleben, Familie, Wohnung usw.) und den Zukunftsperspektiven, z.B. von der Sinnfrage („wozu das alles?“) und Befürchtungen abhängig.
Geistiger Abbau ist auch vor den Erwartungen der Pflegenden, Angehörigen und Ärzte abhängig. Wenn sie Verwirrte in Heimen erwarten und deshalb Aktivierung für überflüssig halten, werden sich alte Menschen genauso verhalten, d.h. verwirrt werden („Selffulfilling prophecy“).

Altern ist mehrfach bestimmtes Schicksal (biologisch, biographisch, sozial, ökonomisch, ökologisch, epochal); geistiger Abbau kann zu kognitiver Beeinträchtigung, aber nicht unabwendbar zur Demenz führen. Der Alterungsprozess ist nicht passiv als irreversibel anzunehmen, sondern als Herausforderung, Angehörige, Pflegende, Sozialarbeiter, Psychologen und Ärzte können die Faktoren klären, die zur Hirnleistungsschwäche beitragen, um früh mit gezielten Interventionsmaßnahmen einem geistigen Abbau vorzubeugen.

Je mehr Pflegende an den Erfolg ihrer Bemühungen glauben, umso mehr fördert ihre Erwartungshaltung die Aktivität auch dementer Personen. Pflegende und Angehörige brauchen Training, um die eigene Einstellung zu Verwirrten zu ändern, um durch Wertschätzung, Akzeptanz, Echtheit und Anregung weiteren Abbau aufzuhalten. Wer aber passive Teilnahmslosigkeit, dumpfes Dahindösen und schließlich Verwirrtheit erwartet, wird gerade dieses Verhalten verstärken.

Verwirrtheit als Ausweg aus Unvereinbaren Widersprüchen

  1. Innerpsychisch

Bei zunehmender Ich-Schwäche, z.B. durch Abhängigkeit von Pflegenden kann eine Älterer bisher beherrschte Wut nicht mehr kontrollieren, obwohl er sie sich verbietet. Oder wenn er schlecht sieht oder hört, d.h. die Wahrnehmung seinen Vorstellungen widerspricht, kann er verwirrt reagieren. Wenn er glaubt, die Idealvorstellungen seiner Eltern nicht erfüllt zu haben, fühlt er sich schuldig und kann seine Schuldgefühle mit Verwirrtheit abwehren, besonders wenn eigene Kinder oder Pflegende überlieferte Werte in Frage stellen. Der verwirrende Wertepluralismus verunsichert Ältere.

Verwirrtheit kann eine normale Reaktion sein. Haben z.B. Verliebte einen Realitätsbezug? Ein Verwirrter ist nicht ein unberechenbarer „Verrückter“, sondern ein feinfühliger alter Mensch, der mit dem Stress der ihn überfordernden Widersprüche nicht fertig wird: mit gegensätzlichen Gefühlen, die im Widerspruch zum Denken und zu Wertvorstellungen stehen, mit wechselnden Beziehungen, mit gegensätzlichen Normen, mit widersprüchlich erlebtem Verhalten der Umwelt. Diese Widersprüche können sich krisenhaft zuspitzen bis zu Angst und Verwirrtheit.

  1. Partnerschaftlich

Wenn Partner symbiotisch von einander abhängig waren, reagiert der Überlebende nach dem Partnertod mit Verwirrtheit. Eine alte Kranke empfindet es als unvereinbar widersprüchlich, wenn die Tochter, für die sie alles getan hat, die Pflege ablehnt.

  1. Familiär

Kommunikationsmuster, die einen offenen Konflikt vertuschen, verwirren wie zweideutige oder widersprüchliche Bemerkungen oder undurchsichtige Erklärungen, wie z.B. „wenn aber“, „allerdings“. Verwirrend sind Aussagen, denen die begleitenden nonverbalen Signale widersprechen, wie z.B. Kopfschütteln. Heben der Augenbrauen, Zucken der Mundwickel oder Handbewegungen.

  1. Institutionell

Heimbewohner erhalten widersprüchliche Botschaften von Pflegenden, von denen sie abhängig sind, d.h. sie sind in einer Beziehungsfalle (double bind) gefangen: sie sollen alles mit sich machen lassen, aber z.B. selbstständig essen. Wenn die Heimordnung etwas anderes vorschreibt als praktiziert wird oder wenn ein Pflegender etwas erlaubt, was der andere verbietet, ist Verwirrtheit vorprogrammiert.

  1. Gesellschaftliche Vorurteile z.B. von Abbau und Hilflosigkeit, nachdem ein Leben lang das Gegenteil, d.h. Leistung erwartet wurde.

 Verwirrtheit als Sinnkrise

  • Wandlungskrise                                 – Gedächtnis und Handlungsfähigkeit ändert sich
  • Wertekrise                                          – alte Werte schwinden im Wertepluralismus
  • Diskrepanzkrise                                 – alte Hygienevorstellungen widersprechen neuen
  • Verwirklichungskrise                         – alte Ziele sind nicht mehr zu realisieren
  • Bedrohungskrise                                – Krankheiten und Tod drohen
  • Vertrauenskrise                                  – Vertrauen zu Mitmenschen und Gott schwindet
  • Selbstwertkrise                                  – Bedeutungslosigkeit bei Rollenverlust
  • Identitätskrise                                    – Selbstentfremdung bei Sinnleere
  • Kommunikationskrise                        – Nichtverstehen stört Beziehungen, macht einsam

Flucht in die Verwirrtheit kann für Ältere, die diese Krisen erleben, zu einer letzten Möglichkeit werden. Wenn Kranke nicht mehr einsehen, wofür, für welche Ziele es sich noch zu leben lohnt, welchen Sinn ihr Leiden hat, können sie verwirrt reagieren. In Gesprächen könnten Pflegende mit den Kranken nach einem Sinn suchen.

 

Anmerkung zu diesen Ausführungen von Erich Grond von Adelheid von Stösser (2003):

Diese Darstellung kausaler Zusammenhänge deckt sich im wesentlichen mit den von Bauer und Kropiunigg ermittelten Daten, sowie auch den ungezählten Beobachtungen die jeder, der mit alten, verwirrten Menschen zu tun hat, beobachten kann. Es wird der Zeitpunkt kommen, da werden die Alzheimerforscher nicht mehr umhinkommen, psychische Auslöser für die beobachteten Veränderungen im Hirnstoffwechsel in Betracht zu ziehen. Derzeit schiebt man diese Annahme noch weit weg.   Es ist eben eine Frage der Zeit bzw. subjektiv erlebter Intensität kränkender psycho-sozialer Faktoren, bis es zu nachweisbaren Veränderungen im Hirnstoffwechsel und schließlich zum Zelluntergang kommt. Vorläufig befinden sich diejenigen, die diese Krankheitssicht vertreten, in einer ähnlichen Position wie einst Kopernikus mit seiner Darlegung der Erdkugel.

 

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