Hör auf zu schreien, sonst kommst du wieder in die Klinik

In lichten Momenten, wenn Ulrike ihre Schwester Hanne, in ihrem Heim besucht, hat sie den Eindruck: „Hanne versteht alles. Das sind die Tabletten, die sie um den Verstand bringen. Stellen Sie sich einmal vor, was sie heute zu mir gesagt hat. ….“ Ulrike ist jedes Mal fix und fertig wenn sie von einem Besuch nach Hause kommt. „Wieder hat Hanne sich mit Händen und Füßen gesträubt ins Heim zurückzugehen, als ich mit ihr spazieren war. Sie will immer, dass ich sie mit nehme. Im Heim schreit sie dann vor lauter Verzweiflung. Ich flehe sie an, sie soll auf hören mit dem Schreien.“ Es ist beeindruckend, mit welchem Scharfsinn, Ulrike Zusammenhänge sieht und beschreibt. Von dieser Beobachtungsgabe könnten sich Fachleute manches abschauen. Dabei ist es ihr selbst oft zum Schreien.

Warum die Heilpädagogin Hanne (geboren 1948) diese Panikzustände hat, kann keiner sagen. Ihre Schwester vermutet, dass irgendetwas – für Hanne unaussprechliches – bei ihrer Arbeitsstätte vorgefallen ist. Irgendwann um 2003 herum, fallen der Mutter und Schwester Veränderungen bei Hanne auf. Sie wirkt unsicher, unentschlossen, hilflos in Situationen, die sie früher selbstbewusst regelte. Schließlich verliert sie ihre Arbeit bei der Caritas in Hagen und bezieht eine Wohnung  in der Nähe von Schwester und Mutter im  Rheinland. Dort stabilisiert sich ihr Zustand.

2007 kommt es zu einem der Panikanfälle, bei dem Ulrike sich nicht anders zu helfen weiß, als nach dem Arzt zu rufen. Damit fängt das ganze Unglück an, wirft sie sich heute noch vor. Aber wie konnte sie auch wissen, dass die Fachleute in der psychiatrischen Klink ……., in solchen Fällen keine andere Methode kennen, als den Menschen so lange und so massiv ruhig zu stellen, bis er gar nichts mehr empfinden: Keine Angst, keine Freude, kein Hunger, kein Interesse an nichts und niemandem. „Hanne wurde in der Klinik wochenlang fünfpunktfixiert. Sie wurde nicht gewaschen, hat nichts gegessen. Es war grausam. Als ich sie zurück bekam, war sie schwer traumatisiert. Wenn sie einen im weißen Kittel sieht, fängt sie an zu schreien und will weg.“ Ulrike sucht im Umkreis nach Ärzten und Einrichtungen, die ihr helfen und „nicht nur Tabletten an Hanne ausprobieren“.

Da Hanne nicht mehr allein in ihrer Wohnung leben kann, die Wohnung ihrer Schwester jedoch zu klein ist, zumal außerdem die herzkranke Mutter dort lebt, sieht die Familie keinen anderen Weg, als die Schwester/Tochter  in ein Pflegeheim zu geben. Mit 62 Jahren, ist sie dort die jüngste Bewohnerin. Kaum ist sie dort, bekommt sie wieder einen Panikanfall. Wieder landet sie in Andernach, wieder wird sie tagelang angebunden und sediert. Erneut macht sich Ulrike auf die Suche nach Ärzten und Einrichtungen, die andere Methoden praktizieren. Vergeblich hofft sie auf Verständnis der Pflegekräfte im Heim, drängt darauf die Medikamente zu reduzieren und am besten ganz abzusetzen. Dadurch wird sie unbequem, derart, dass sich die Heimleitung gemeinsam mit dem behandelnden Arzt ans Gericht wenden, mit der Erklärung die Bevollmächtigte, Ulrike K,  gefährde das Leben ihre Schwester und der anderer Bewohner, weil sie die Notwendigkeit der Medikation nicht einsehen könne. Wie in fast jedem Falle, so schließt sich das Gericht den Empfehlungen der Fachleute an und schaltete eine Berufsbetreuerin ein. Dies, obwohl eine notariell beglaubigte Vorsorgevollmacht vorliegt, in der Hanne, ihre Schwester Ulrike bevollmächtigt.

Als sich Ulrike an den Pflege-SHV wendet, hat das Betreuungsgericht an ihrer Stelle bereits eine Berufsbetreuerin eingesetzt. Eine fremde Person entscheidet seither wo Hanne  lebt, wer sie behandelt und welche Therapie sie bekommt.  Lediglich die finanzielle Abwicklung dieses „Betreuungsfalles“ hat das Gericht der Bevollmächtigten gelassen.  Jedoch auch uns waren in diesem Falle die Hände gebunden, denn Ulrike wollte auf keinen Fall riskieren, dass ihr  auch noch das Besuchsrecht genommen wird.   Bei meinen Besuchen der beiden Schwestern, auch im Heim, erlebte ich die Verzweiflung  – die selbst mich belastet, weil ich bis heute in dieser Lage keinen Ausweg sehe.   Ich habe Verständnis für die Zerrissenheit von Ulrike, wenn diese an einem Tag darauf drängt an die Öffentlichkeit zu gehen und am nächsten anruft, um mich zu bitten, auf keinen Fall irgendetwas zu unternehmen, was weitere Sanktionen nach sich ziehen könnte.   Im Heim ist sie als Besucherin bestenfalls geduldet. Sie bittet deshalb um Anonymisierung der Namen und des Ortes.

„Stellen Sie sich vor, als die Pflegekraft meine Schwester nach dem Abendessen (gegen 18.00 Uhr) ins Bett legen wollte, hat Hanne richtig laut und verständlich gesagt: „Ich will nicht immer schlafen. Ich will leben“.“, berichtet Ulrike bei ihrem letzten Anruf, der jedoch schoneinpaar Jahre zurückliegt.

Psychosomatik der Alzheimer-Demenz: Ein typischer Teufelskreis

Hanne  (Jahrgang 48) von Beruf Dipl. Heilpädagogin, hatte eine gute Stelle bei der Caritas in H….., war ein lebensfroher Mensch, unternehmenslustig und zuverlässig, jedenfalls in den Augen ihrer Schwester und  Mutter. Regelmäßig besuchte sie diese oder sie telefonierten lange miteinander. Eines Tages im Frühjahr 2003 kam ein Anruf vom Krankenhaus …… , mit der Mitteilung, dass Hanne einen „Zusammenbruch“ gehabt habe und Hilfe brauche. Sie könne in ihrem Zustand momentan nicht alleine in ihrer Wohnung leben.

Nach kurzen Beratungen in der Familie, zieht sie in ihre Heimatstadt. Der glückliche Zufall fügte es, dass in dem Mehrfamilienhaus, in dem Ulrike mit ihrer 85 jährigen Mutter lebt, eine Wohnung frei wird. Hanne zieht dort ein und erholt sich, dank der Fürsorge von Schwester und Mutter soweit, dass sie ihre Angelegenheiten selbstständig wieder regeln kann. Da Ulrike zu diesem Zeitpunkt noch berufstätig war, kümmert sich Hanne mit um die Mutter. Die beiden Schwestern unternehmen alles Mögliche, besuchen Konzerte, gehen ins Theater, erwandern oder erradeln die nähere und fernere Umgebung. Wie in jeder Familie gibt es hier und da verschiedene Auseinandersetzungen. Auch gibt Hannes Verhalten hin und wieder Anlass zur Verwunderung oder gar Besorgnis. Irgendwie neigte sie wohl dazu, Dinge zu verdrehen oder sie konnte sich plötzlich nicht mehr erinnern, reagierte übertrieben euphorisch, dann wieder sehr ängstlich. Ja, sie konnte wegen Nichtigkeiten regelrecht in Panik geraten. In ihrer eigenen Hilflosigkeit drängte Ulrike darauf, dass sich Hanne  in ärztliche Behandlung begibt. Mehrfach begleitete sie sie zu Fachärzten.

Eine erste Verdachtsdiagnose „Alzheimer-Demenz“ wurde bereits in 2003 in einer Mannheimer Klinik gestellt. Dieses Stigma, so hat sie das zweifelsohne empfunden, als sie noch weitgehend klar denken konnte, lastete sehr auf ihr. Ebenso die Vorkommnisse, die zu dem Zusammenbruch und der Kündigung ihrer angesehenen Stelle geführt hatten. Was dort genau vorgefallen ist, darüber habe sie nie gesprochen. Ulrike  wollte das gerne recherchieren, hat es aber dann doch nicht gemacht. Hanne schien die Erinnerung an diese Zeit bei der Caritas in H…. und ihren Beruf komplett aus ihrem Gedächtnis gelöscht zu haben. Im übrigen findet man bei vielen Demenzkranken einen Auslöser in Form einer unerträglichen Situation die zu einer Amnesie führt. Indem das Belastende in einem unbewussten Prozess, psychisch verdrängt wird, kann der Betreffende einigermaßen unbeschwert weiterleben. Leider gibt es noch nur wenige Ärzte, die diesen Mechanismus als Auslöser für Demenz erkennen.

Angesichts der Verdachtsdiagnose wollte Hanne Vorsorge treffen und wandte sich an einen Notar, um sich in Bezug auf Vorsorgevollmacht und Patientenverfügung beraten zu lassen. Dieser setzte das Dokument auf,  mit dem Hanne ihre Schwester und ihren Bruder, bevollmächtig hatte,  sie für den Fall ihrer Geschäftsunfähigkeit in allen Angelegenheiten zu vertreten. Die am 22.Dez.2003 beglaubigten Vollmachten liegen vor. Damals war das Verhältnis zum Bruder, der auch nur wenige Kilometer entfernt mit seiner Familie wohnte, noch weitgehend ungetrübt. Außerdem dachten die Geschwister und die Mutter, dass er als Mann mit den Behördengängen und bei Problemen vielleicht mehr Durchsetzungskraft hat. Als der Betreuungsfall dann gut vier Jahre später eintrat, zeigten sich leider bald große Unterschiede in der Bewertung der Situation. Während Ulrike  viele Reaktionen ihrer Schwester  gut verstehen konnte und ihr eine andere Form der Hilfe gewünscht hätte, als die nebenwirkungsreichen Medikamente, vertrat ihr Bruder den Standpunkt, dass die Ärzte doch wohl am besten die Behandlung beurteilen können. Allerdings war er auch nicht so nahe dran, konnte die Auswirkungen dieser Medizin auf das Befinden seiner Schwester nicht direkt beobachten. In den ersten Jahren beschränkte sich die Medikation auf Aricept (ein sog. Antidementivum – von umstrittenen Wert)
Die Geschichte bekam eine Wende, durch einen Vorfall am 28.03.2007. Aus hier nicht näher ausgeführtem Anlass, kam es zu einem Streit zwischen Ulrike und Hanne. Die Situation schaukelte sich hoch, Hanne sei außer sich geraten, habe geschrieen wie verrückt und sei handgreiflich geworden, so dass sich Ulrike keinen anderen Rat wusste, als die Polizei zu rufen. Diese ihre Reaktion bereut sie bis heute sehr. Denn hierdurch landete Hanne erstmals in der Psychiatrischen Klinik. Völlig außer sich, ob dieser Zwangsmaßnahme, reagierte sie auch dort aggressiv gegen Ärzte, Pflegepersonal und jedem, der ihr entgegentrat. Die einzige Therapie in dieser Klinik bestand darin, die Patientin medikamentös und mechanisch ruhig zu stellen. Als Hanne am 16.04.2007 die Klinik wieder verlassen konnte, zeigte sie Verhaltensweisen, die man zuvor bei ihr nicht kannte. Beispielsweise habe sie auf der Straße fremde Menschen angesprochen und um Hilfe gebeten oder unverständliche Geschichten erzählt. Bis dahin hat niemand mitbekommen, dass mit Hannes Verstand irgendetwas nicht stimmte. Sie sei in der Öffentlichkeit nie auffällig gewesen, man hätte problemlos überall mit ihr hingehen können. Nun musste Ulrike immer in Sorge sein, dass Hanne „aus der Reihe tanzt“,   musste Ausreden für solch peinlichen Begebenheiten finden. Auch zu Hause sei es viel schwieriger gewesen. Immer wieder habe Hanne Angstzustände bekommen, sich bedroht gefühlt, schließlich konnte sie gar nicht mehr alleine in ihrer Wohnung bleiben.

Kurze Zeit später bricht Hanne zusammen, hatte ihren ersten epileptischen Anfall. Erschrocken ruft Ulrike den Krankenwagen, dieser fährt zunächst ein Allgemeinkrankenhaus an. Als der Arzt im Krankenhaus hört, dass die Patientin eine Demenz hat, veranlasst er sofort den Weitertransport nach Andernach. Erneut landet sie auf der geschlossen Abteilung der Psychiatrie. „Dort wurde sie wieder die ganze Zeit nur extrem ruhig gestellt und fixiert. Es war die reinste Folter, kaum mit anzusehen.“, beschreibt Ulrike ihren Eindruck. Da das Pflegepersonal nicht in der Lage war, Hanne  zu duschen und umzuziehen, weil diese sich seitdem von jedem bedroht fühlte der in einem weißen Kittel daher kommt, und in Abwehrstellung geht, habe Ulrike ihre Schwester geduscht. „Ich dachte immer, in so einer Klinik da sind doch alles Experten, die wissen, wie man einem solchen Menschen die Angst nimmt. Doch in dieser Klinik kennt man offenbar nicht anderes als das Prinzip: Bist du nicht willig, brauch ich Gewalt. Dabei tut meine Schwester doch keiner Fliege etwas zu leide. Sie ist der friedlichste und dankbarste Mensch unter der Sonne, wenn sie sich nicht bedroht fühlen muss.“

Nach ihrer Entlassung war Hanne total verstört und von großer Unruhe getrieben. Teilweise entsprach ihre Reaktion den Beschreibungen der Nebenwirkung auf den Beipackzetteln der Medikamente, die sie nun alle schlucken musste. Verzweifelt suchte Ulrike einen Arzt der diese Medikamente absetzen würde und ihr stattdessen eine hilfreichere Therapie verordnen konnte.
Seit dem zweiten Klinikaufenthalt gestalteten sich die Arztbesuche extrem schwierig. Ganz offenbar hatte sie große Angst, die sich schon im Wartezimmer geäußert habe. Je nach dem wie ein Arzt sie ansprach, habe sie entweder gar keine Antwort gegeben oder sei beleidigend und aggressiv gewesen, wodurch sie den Eindruck der Demenz verstärkte. Einzige Ausnahme war Dr. …… , der es offenbar verstanden hat, auf Augenhöhe mit der Patientin zu kommunizieren. ……. Diesem gegenüber habe sie völlig normal und sinngemäß geantwortet.

Die Lebenssituation in den beiden Wohnungen gestaltete sich immer schwieriger. Vor allem, weil Hanne  nicht mehr alleine bleiben konnte und außerdem die herzkranke Mutter durch dieses Hin- und Her sehr belastet war. Ulrike  wandte sich an alle möglichen Beratungsstellen in Stadt und Land. Doch keines der Angebote konnte sie als wirklich hilfreich ansehen. Immer stärker tendierten die Ratgeber in Richtung: Heimunterbringung. Nicht zuletzt sogar der Bruder.  Es gab jedoch auch warnende Stimmen, wie die ihres damaligen Neurologen, der ihr erklärte, dass alle Altenheime der Umgebung ihre Bewohner bei Verhaltensauffälligkeiten nach Andernach in die Psychiatrie schaffen würden. Dort werden sie dann medikamentös so eingestellt, dass sie nur noch wie in Trance dasitzen und sich vom Personal wie willenlose Marionetten handhaben lassen. Er sollte Recht behalten.

Was tun? Welche Alternative gibt es in diesen Fällen? Ulrike sah keinen Ausweg. Sie war am Ende mit ihrer Kraft, ihre Mutter ebenfalls. Schweren Herzens entschied sich die Familie  für einen Kurzzeitpflegeaufenthalt. Acht Wochen nach ihrem zweiten Klinikaufenthalt in besagter Psychiatrie begann nun Hanne’s traurige Heimkarriere.  Gab es bis dahin immer noch Gelegenheiten in denen sie ihr Tund und Lassen selbst bestimmen konnte, was ihr stets sehr wichtig war,  sah sich sich in diesem Heim rund um die Uhr von fremden Menschen überwacht und bestimmt.     Als Bewohnerin des Altenheimes ….. muss sie sich den dortigen Gegebenheiten anpassen. Da sie damit jedoch Probleme hatte und weil ihr keine andere Möglichkeit blieb, ihre Bedürfnisse und ihren Willen kundzutun, kommt es immer wieder zu aggressiven Reaktionen, mit Beschimpfungen, Schreien und Handgreiflichkeiten dem Personal gegenüber. Wie sollte sie sich auch anders wehren oder verständlich machen, dass ihr der Umgangston und die gut gemeinte aber dennoch herabwürdigende Art nicht gefällt, mit der sie im Heim  behandelt wird. Wieder kommt es zu Einweisungen in die Psychiatrie. Wieder wird sie medikamentös ruhig gestellt und 24stunden lang an Armen, Beinen und Rumpf fixiert. Wieder wird sie entlassen, gebrochen an Körper und Seele. Konnte sie bis dahin normale Sätze bilden und in vielem sinngemäß antworten oder Umschreibungen finden, wenn das passende Wort fehlte, war sie nach dieser Form der Behandlung kaum noch in der Lage einen verständlichen Satz zu sprechen. Sie ging gebeugt, in kleinen Trippelschritten – so dass man Angst haben musste, sie fällt jeden Moment. Sie stand unvermittelt auf, blieb dann mitten im Raum stehen, wusste nicht mehr wo sie war, fand ihr Zimmer nicht, konnte sich nicht mehr alleine anziehen, nicht mehr alleine waschen und brauchte bei allem Hilfe und Unterstützung.

In nur wenigen Wochen hatte man in dieser Klinik und in dem Pflegeheim einen kompletten Pflegefall aus dieser Frau gemacht, die gerade 60 geworden war.

Ulrike, die als bevollmächtigte ihrer Schwester die gesetzliche Betreuung hatte, war erneut entsetzt, versuchte Hanne ins Leben zurück zu holen. Wieder begab sie sich auf die Suche nach einem Arzt, der die Medikamente absetzen würde. Die, das hatte Ulrike inzwischen recherchiert,  an ihrem  Zustandsbild beteiligt waren. Dadurch kam es zu Konflikten mit dem Personal im Pflegeheim. Immerhin erreichte sie, dass ihre Schwester zeitweise wieder soweit hergestellt war, dass sie Lachen konnte und Interesse für ihre Umwelt mitbrachte. Andererseits,  je wacher Hanne  wurde, desto bewusster wurde sie sich ihre Lage. Das Bedürfnis, diesen Ort zu verlassen, in dem es keinen Menschen gab, mit dem sie etwas hätte unternehmen wollen und können, äußerte sich in vielen Reaktionen. So weigerte sie sich mit den anderen Demenzkranken zu basteln oder zu singen, beteiligte sich nicht an Gemeinschaftsaktivitäten, offenbar gab es nichts, wodurch sie sich angesprochen fühlte. Sie wollte nur nach Hause.

Teilweise machten ihr andere Bewohner auch Angst. So kam es erneut zu einer Eskalation, als ein Mitbewohner, der ihr gegenüber in dem Zimmer wohnte, ihr nachstellte. Mehrfach muss er in ihr Zimmer gekommen sein und versucht haben, sich ihrer zu bemächtigen oder wenigstens diese Angst bei ihr auszulösen. Als Hanne bei einem solchen Versuch wieder in Panik geriet, wurde sie vom Personal überwältigt und in die Psychiatrie verbracht. Es folgte erneut die schon genannte Behandlung: Medikamentöse Ruhigstellung und 5 Punkt-Fixierung rund um die Uhr.

In dieses Heim konnte Hanne nun nicht mehr zurück, nachdem Ulrike die Heimleitung zur Rede gestellt und verantwortlich für diese Situation gemacht hatte. Schließlich hatte sie vorher schon mehrfach auf das Problem mit dem Nachbarbewohner hingewiesen und erklärt, dass ihre Schwester Angst vor dem Mann habe. Da die Zimmertür Tag und Nacht offen war, konnte der jederzeit unbemerkt eintreten. Hanne war diesem Mann, der angeblich auch wegen Demenzerscheinungen im Heim lebte, aber noch recht rüstig zu sein schien, schutzlos ausgeliefert. Mit 60ig war sie deutlich jünger und auch attraktiver als andere Heimbewohnerinnen. Hanne hatte sich zeitweise wohl auch etwas mit diesem Mann angefreundet, jedoch, nachdem dieser dann mehr wollte, lebte sie nur noch in Angst und auf der Flucht. Das Personal schien sich darüber zu amüsieren und nahm die Situation nicht ernst.

Rasch musste ein neues Heim gefunden werden. Seit etwa April 2008 wohnt Hanne nun im Alten- und Pflegeheim ……..  Anfänglich habe sich die damalige Wohnbereichsleiterin und heutige Heimleiterin sehr verständnisvoll gezeigt und sich mit dafür eingesetzt, dass die Medikation, mit der Hanne aus der Psychiatrie entlassen worden war, wieder soweit zu reduzieren, dass sie tagsüber wach sein konnte. Doch da auch in dieser Einrichtung eher ein funktionales Pflegeverständnis vorherrschte und die üblichen Beschäftigungsangebote Hanne nicht angesprochen hatten, entwickelte sich bald eine vergleichbare Situation wie in der vorherigen Einrichtung. Ulrike suchte wiederum nach einem Arzt, der die Psychopharmaka ausleitet oder wenigstens auf ein Minimum reduziert. Denn ihr ist klar, dass nicht die Demenz den jetzigen Zustand ihrer Schwester herbeigeführt hat, sondern Neuroleptika, Hypnotika/Sedativa. „Man muss sich nur die Nebenwirkungsliste auf den Beipackzetteln ansehen, um als Laie bereits feststellen zu können, wo die Symptome herkommen, die sich aktuell zeigen.“

Risiken und Nebenwirkungen der eingesetzten Medikamente

Im Folgenden seien hier die verordneten Medikamente aufgelistet, Wirkstoffart-Indikation-Kontraindikation- in den Beipackzetteln oder Fachliteratur beschriebene Nebenwirkungen die beobachtet werden konnten.:

Seroquel 25mg (Neuroleptikum)
Empfohlen zur Behandlung von Krankheiten die mit Wahrnehmungsstörungen, Wahnvorstellungen, Unruhe, Angst und Antriebssteigerung einhergehen.

Kontraindiziert bei Epilepsie. „Seroquil ist nicht zugelassen für die Behandlung von Patienten mit psychischen Störungen, die durch eine krankhafte Einschränkung der geistigen Leistungsfähigkeit (Demenz- assoziierte Psychose) bedingt sind. Demnach wäre dieses Medikament bei Frau K, grundsätzlich in Frage zu stellen. Dennoch erhält sie das Medikament über Monate in der Dosierung 2-0-2. Nach einem Krampfanfall und Notfalleinweisung ins Bundeswehrkrankenhaus, empfiehlt der behandelnde Arzt am 11.4.08 Seroquil abzusetzen, da es bei Epilepsie kontraindiziert ist. Im Heim wurde es jedoch weiter verabreicht, so dass Uschi erneut im Interesse ihrer Schwester mit dem Arzt verhandeln musste.

Häufige Nebenwirkungen: Schläfrigkeit, Benommenheit, Mundtrockenheit, erhöhte Herzfrequenz, plötzlicher Blutdruckabfall beim Aufstehen und Stehen (Sturzrisiko) kurze Bewusstlosigkeit, Krampfanfälle (Epilepsie) Bei längerer Behandlungsdauer: ständig wiederkehrende abnorme Bewegungen (typische Neuroleptika Langzeitschäden bilden sich auch nach dem Absetzen oft nicht wieder zurück)

Melneurin 50 (Melperon, Neuroleptikum)
Empfohlen zur Behandlung von Schlafstörungen, Verwirrtheitszuständen und zur Dämpfung von psychomotorischer Unruhe und Erregungszuständen, insbesondere bei Patienten der Geriatrie und Psychiatrie.

Nebenwirkungen: Müdigkeit, Herzrhythmusstörungen, extrapyramidale Begleitsymptome in Form von Frühdyskinesien (krampfartiges Herausstrecken der Zunge, Verkrampfung der Schlundmuskulatur, okulogyre Krisen, Schiefhals, Versteifung der Rückenmuskulatur, Kiefermuskelkrämpfe), Parkinson-Syndrom (Zittern, Steifigkeit), Akathisie bei hochdosierter, längerer Behandlung kommt es gehäuft zu Spätdyskinesien („Spätdyskinesien“, z.B. unwillkürlichen Bewegungen vor allem im Bereich von Kiefer- und Gesichtsmuskulatur, aber auch unwillkürlichen Bewegungen an Armen und Beinen) die sich auch nach Absetzen des Medikamentes nicht wieder zurückbilden.

Zopiclon
Empfohlen zur Kurzzeitbehandlung von Schlafstörungen.

Laut dem Empfehlung der Pharmastudien sollte die Dauer der Behandlung, einschließlich der schrittweise Absetzphase, 4 Wochen nicht übersteigen. Tatsächlich wurde das Medikament monatelang gegeben.

Nebenwirkungen sowie Entzugserscheinungen die allesamt bei Jane während dieser Behandlung beobachtet werden konnten:  Verstärkung von Angstzuständen, innere Unruhe, Verwirrtheit, Reizbarkeit, Realitätsverlust, Persönlichkeitsstörungen, Überempfindlichkeit gegenüber Licht, Geräuschen und körperlichem Kontakt, Taubheit und Parästhesien in den Extremitäten, Halluzinationen sowie epileptische Anfälle.

Tavor   (Tranquilizer- Wirkstoff Lorazepam)
Empfohlen zur symptomatischen Kurzzeitbehandlung von Angst-, Spannungs- und Erregungszuständen sowie dadurch bedingte Schlafstörungen

Dauer der Behandlung: „Die Anwendung von Tavor 0,5 sollte auf Einzelgaben oder wenige Tage beschränkt werden.“ Hanne erhielt das dieses Mittel von 2007 bis 2010, täglich in einer Dosierung 1-1-1- sowie zusätzlich bei Bedarf.

Hinweis im Beipackzettel: „Nicht alle Angst- und Schlafstörungen bedürfen der Behandlung mit einem Arzneimittel. Oftmals sind sie Ausdruck seelischer Probleme und Konflikte und können durch andersartige Maßnahmen beeinflusst werden“ Dieser Satz klingt wie Spott und Hohn, angesichts der Praxis.

Topamex
Empfohlen zur Behandlung von neu diagnostizierter Epilepsie, Monotherapie oder Zusatztherapie

Nebenwirkungen u.a.: sehr häufige und häufige unerwünschte Wirkung – Epilepsie: Müdigkeit, Schwindel, Ataxie, Sprach-Sprechstörungen, Nystagmus, Parästhesie, Ängstlichkeit, Übelkeit, Gewichtsverlust, Verwirrtheit, Depressionen, Sehstörungen, psychotische Symptome und aggressives Verhalten, Erregung/Agitation, Stimmungsschwankungen, Labilität, Koordinationsstörung, Gangstörung, Asthenie, Tremor u.v.a.m.

Das Medikament wird verabreicht von …. bis ….

Timonil 300 Anti-Epileptikum
Empfohlen bei zerepralen Krampfanfällen

Nebenwirkungen: Verwirrtheit, Unruhe, depressive Verstimmungen, aggressives Verhalten, Denkerschwernis, Antriebsverarmung, Halluzinationen, Tinnitus, Aktvierung latenter Psychosen Timonil, Nystagmus, unwillkürliche Bewegungen, bei älteren/hirngeschädigten Patienten Dyskinesie, Sprechstörungen, Mißempfindungen, Muskelschwäche, periphere Neuritis, Paresen der Beine

Anmerkung: Im Bundeswerkrankenhaus, in das Hanne nach einem epileptischen Anfall und Sturz am 05.April 2008 eingeliefert wurde, bescheinigt der behandelnde Arzt das sog. PISA Syndrom (Nebenwirkung der Neuroleptikatherapie) als Ursache für den Krampfanfall. Seine Empfehlung an den behandelnden Arzt: >>Seroquil (2-0-2) absetzen, Timonil (1-1-1) ausschleichen, 3-1/2,nach 2d 2×1/2 nach weiteren 2d 1×1/2 anschließend absetzen. Diese Empfehlung wurde jedoch vom behandelnden Arzt nicht angenommen, die Medikamente wurde gegen den Einspruch der Vorsorgebevollmächtigten weitergegeben.

Trileptal
Empfohlen zur Behandlung von zerebralen Krampfanfällen. Epileptische Anfälle traten bei Hanne, seit sie mit Zopiclon behandelt wurde mehrfach auf und machten Krankenhausaufenthalte notwendig.

Nebenwirkungen u.a.: Unruhe, Gedächtnisstörungen (Amnesie), Apathie, Verwirrtheit, depressive Verstimmung, Sehstörungen (Doppelsehen, verschwommen sehen)

Zyprexa
Der in diesem Medikament enthaltende Wirkstoff Olanzapin ist für die Behandlung von Schizophrenie angezeigt sowie zur Behandlung von manischen Episoden.
Manische Episoden zeigte Hanne nach der ersten Behandlung in der psychiatrischen Klinik. Ein Schizophrenie Verdacht bzw. Diagnose liegt nicht vor.

Kontraindikation: „Olanzapin ist für die Behandlung von Patienten mit Demenz-assoziierter Psychose und/oder Verhaltensstörungen im Zusammenhang mit einer Demenz nicht zugelassen und die Anwendung in dieser speziellen Patientengruppe wird ausdrücklich nicht empfohlen, da die Mortalität (Sterblichkeitsrate) und das Risiko eines zerebrovaskulären Zwischenfalls (epileptische Anfälle, Schlaganfall)erhöht ist. In klinischen Studien mit Demenzkranken stiegen Sterblichkeit und Schlaganfallrisiko signifikant an. Kontraindiziert ebenfalls bei Patienten mit epileptischen Anfällen und parkinson Symptomen.“ Trotzdem wurde dieses Medikament über eine längeren Zeitraum verordnet.

Ich selbst habe Ulrike dreimal zu Besuchen in das Heim begleitet und mit eigenen Augen gesehen, in welch hilflosen Zustand diese Frau hineintherapiert und gepflegt wurde.

Diese unbegreifliche Gewalt, die ihrer Schwester angetan wurde und immer noch angetan wird und die eigene Ohnmacht, haben auch Ulrike sehr zugesetzt. Auch wenn sie von ihrer Art her weniger gefährdet erscheint, Belastungen zu Verdrängen und in den Teufelskreis der Demenz zu geraten,  diese Erfahrung hat sie bis ins Mark getroffen.  Selbst mit psychologischer Hilfe lässt sich so etwas nicht überwinden. Denn hier handelt es sich schließlich nicht um eine normale Opfer-Täter Geschichte.  Diejenigen die ihrer Schwester und ihr das alles angetan haben, sind angesehene Ärzte und Fachleute in unserem Gesundheitssystem.    Wer gegen diese das Wort oder  die Hand erhebt, wie es Hanne getan hat, liefert in deren Augen den Beweis  seiner Geistesgestörtheit und muss befürchten  in der Zwangsjacke abgeführt zu werden.

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