Neuroleptika als Pflegehelfer: Ein Blick auf die Kosten

Im Zeitraum von 04. April 2013 bis 06.Mai 2014  zahlte die Krankenkasse des Herrn O, die DAK, 37.314 Euro für zwei Klinikaufenthalte, Arztrechnungen und Medikamente.  Die private Zusatzsversicherung des Herrn O, die Allianz, zahlte zudem in diesem Zeitraum: 9.164 Euro.  Insgesamt entstanden den Versicherungen also Kosten von rund 46.000 Euro. Hinzu kommen Leistungen der Pflegeversicherung, da sich der Zustand des Demenzkranken unter der Behandlung mit Neuroleptika von Pflegestufe I auf III+ verschlechterte und seine Ehefrau ihn nicht mehr zu Hause pflegen konnte, sondern für die Pflege im Heim privat rund 1.300 Euro monatlich aufbringen musste.   Alles in allem sind durch die Behandlung  in diesen 13 Monaten  gut 60.000 Euro an Kosten entstanden.  Das wäre ja noch vertretbar, wenn es auf der anderen Seite einen Nutzen gegeben hätte.

Betrachtet man den Gegenwert,  den Zweck und Nutzen der Behandlung, fällt die Bilanz doppelt negativ aus.

Mehr als die Hälfte der Kosten sind entstanden, durch den Versuch eines Facharztes, namentlich Prof. Dr. med. Supprian, Gerontopsychiatrische Abteilung am LVR Klinikum Düsseldorf, einige Verhaltsauffälligkeiten des Herrn O, medikamentös abzustellen.  Herrn O, Jahrgang 1939,  wurde bereits viele Jahre zuvor eine Demenz – Typ Alzheimer – bescheinigt.  Seine Frau, die sich bis zu diesem Klinikaufenthalt ohne fremde Hilfe und ohne Neuroleptika um ihn gekümmert hat, war mit den Nerven am Ende, da ihr Mann   einige Verhaltensweisen entwickelt hatte, die schwer zu ertragen waren.

Es begann etwa Mitte 2012, dass Herr O  scheinbar ohne Grund seltsame Schreie ausstieß,  verstärkt am Nachmittag bis in den Abend.  Kein anhaltendes Schreien, sondern kurze, schrille Schreie, die reflexhaft erscheinen.  Seine Frau  hatte zwar herausgefunden, wie sie ihren Mann ablenken kann, um eine Schrei-Attacke wenigstens vorübergehend zu unterbrechen. Aber sie empfand dies dennoch als große Belastung.  Tagsüber konnte sie ihn gar nicht mehr alleine in der Wohnung lassen, aus Sorge, die Nachbarn (Eigentümer der anderen Wohnungen im Haus) könnten sich beschweren.  Denn das Schreien setzte meist dann ein, wenn niemand da war, der ihm Aufmerksamkeit schenkte.  Fast zeitgleich hatte sich eine weitere Verhaltensauffälligkeit bei ihm eingestellt, die nicht weniger problematisch war.  Wenn er an einem Tisch vorbeiging, konnte es passieren, dass er mit einem Handstreich alles herunterfegte, was dort stand.  Auch Fensterbände und Schrankregale räumte er mitunter leer, zog an Gardinen und Decken. Im Dezember war seine Frau  so fertig mit den Nerven, dass sie dem Rat folgte, ihren Mann in die Klinik  zu Professor Supprian zu geben.  Wie sie heute weiß, war dass keine gute Entscheidung, denn danach ging ihr Stress erst richtig los.  Das Experimentieren mit verschiedenen Neuroleptika  brachte nicht nur keine Besserung der beschriebenen Auffälligkeiten, es verursachte zusätzliche.  „Mein Mann wirkte oft wie weggetreten,  wie ein Betrunkener.  Seine Reaktionen waren stark verändert.  Er konnte sich kaum im Stuhl halten, kippte immer wieder zur Seite oder vornüber. …. „  Als die besorgte Ehefrau und Betreuerin die Ärzte darauf ansprach und darum bat, diese Medikamente wieder abzusetzen,  erklärte dieser, es gebe keine Alternative.  Heute kann Frau O  nicht mehr verstehen, wie sie ihren Mann überhaupt so lange in dieser Klinik hat lassen können, obwohl sie sah, wie sich sein Zustand unter dieser Behandlung von Tag zu Tag verschlechterte.  Sie hat sich von den Fachleuten hinhalten lassen, für die das offenbar ganz normal ist, dass  Menschen im fortgeschrittenen Stadium der Demenz, nur noch apathisch herumhängen.  Dass ihr Mann vor dem Klinikaufenthalt noch problemlos Treppen steigen, Ausflüge und Spaziergänge mitmachen konnte und auch sonst in vielem noch selbständig war,  konnte sich kein Arzt und keine Pflegekraft in dieser Klinik vorstellen.  „Acht Wochen unter Dauerbeschuss mit diesen Psychodrogen, haben aus meinem Mann einen Vollpflegefall gemacht. „…..Wenn ich früher mit meinem Mann unterwegs war, sahen die Leute ihm höchstens auf den zweiten Blick an, das etwas mit ihm nicht stimmt.  Seit dem Klinikaufenthalt sieht das jeder sofort.“ Der MDK hat ihm anschließend die Pflegestufe 3+ (Härtefall) zuerkannt, weil alle Pflegeverrichtungen zu zweit bei ihm ausgeführt werden musste.  Beispielhaft dafür sei folgener Eintrag in der Pflegedokumentation genannt:
„Pat. sehr schwierig bis gar nicht zu lenken, muss von zwei PP zur Toilette gebracht werden oder mit frischer Wäsche versorgt werden, ist dann sehr angespannt, aufgeregt und laut.“  ……. Pat. unruhig, getrieben, am späten Nachmittag nicht mehr schreiend, wurde von 2 PP (PflegePersonen) ins Bett gebracht, da sehr sperrig.“

Mit folgenden Medikamenten in unterschiedlicher Dosis und Kombination wurde herumexperimentiert:
– Dipiperon  40 mg,  (Neuroleptika)  abends  und als Bedarfsmedizin  (fast durchgehend)
–  Pipamperon 40 mg,  1-0-1  (Neuroleptika)
– Tiaprid  100 mg   1-1-1    (Neuroleptika)
– Seroquel  (Neuroleptika)
– Tavor  (starkes Beruhigungsmittel aus der Benzodiazepingruppe, als Bedarfsmedizin – wurde häufig gegeben)
– Carbamazepin  (Antidepressiva, Antiepileptika)
– Mirtazapin (Antidepressiva)
– Lyrica
– Tegretal ret. 400   (Antiepileptika)

Da ihr Mann unter dieser Therapie während des 8 wöchigen stationären Aufenthaltes zum kompletten Pflegefall wurde, ohne Hilfe kaum zwei Schritte gehen konnte, gab Frau O ihn zur Kurzzeitpflege in ein Heim. Hier hoffte sie mit Hilfe des Hausarztes die Neuroleptika wieder absetzen zu können.  Dies scheiterte jedoch an der Haltung der  Heimleitung, die nicht bereit war den Mann ohne  Medikamente zu behalten.   Erklärungen, dass das Schreien vorher auch nicht häufiger und stärker war, nutzten nichts.
Allerdings darf man hier nicht unerwähnt lassen, dass es einige Vorfälle gab, die die Haltung der Heimleitung verständlich machen, zumal diese wie auch das gesamte Personal nie etwas anderes kennen gelernt habe, als Demenzkranke mit „herausforderndem Verhalten“, wie es in der Fachsprache heute heißt, mit Neuroleptika zu besänftigen. Zu Beginn hatte es einen Versuch gegeben, die Medikamente abzusetzen bzw. deutlich zu reduzieren.  Während dieser Zeit hatte  der Bewohner seine „entfesselte Energie“ an den Möbeln seines Zimmers auszulassen versucht, wie das Beitragsfoto zeigt, das die herbeigerufene Ehefrau am 02. Febr. 2014 machte.
Wie allgemein bekannt, sind überschießende emotionale Reaktionen, welche auch die Herzfrequenz und den Blutdruck  gefährlich in die Höhe treiben können, der Grund weshalb Neuroleptika am besten unter ärztlicher Kontrolle ausgeschlichen werden sollten.  Bei plötzliches Absetzen sind starke emotinale Reaktionen zu erwarten, abhängig von der Dosis und dem Zeitraum.  Man kann die Reaktion vielleicht vergleichen mit dem Bewegungsdrang eines Pferdes, das nach langem eingefercht sein, beim Freigang auf die Weide erst einmal wild  herumrennt.  Den Zustand der durch Neuroleptika ausgelöst wird, beschreiben Patienten als „innere Zwangsjacke“,  ein so unerträglicher Zustand, dass man sich sofort aus dem nächsten Fenster stürzen würde um erlöst zu werden.  Dazu fehlt allerdings die Antriebskraft, weil Neuroleptika emotionale Impulse  unterdrücken.

Nach diesem Zwischenfall beschloss die Heimleitung, den Bewohner nur  zu behalten, wenn die Medikationsempfehlung aus der Klinik beibehalten wird. Frau O, die die schädliche Wirkung dieser Medikamente beobachtet hatte und ihren Mann am liebsten sofort nach Hause geholt hätte, wandte sich an den Pflege-SHV.   Sie hatte den Film  – Rechtlos und ausgeliefert gesehen und Hoffnung geschöpft.   Vorher hatte sie selbst schon versucht, einen Platz in der  Klinik für Gerontopsychiatrie und Psychotherapie  LWL Klinikum-Gütersloh, für ihren Mann zu bekommen.  Denn in dieser Klinik, mit ihrem Chefarzt Bernd Meißnest, werden u.a. Patienten mit Demenz aufgenommen, die  an typischen Neuroleptika-Schäden leiden.  Diese werden während des Ausschleichprozesses therapeutisch und pflegerisch begleitet, bis sich ihre Verfassung stabilisiert hat und sie möglichst ohne Medikamente wieder entlassen werden können.    Auch in dieser Klinik setzt man zeitweise Neuroleptika ein, aber nicht als das einzige und alleinige Mittel.  Vielmehr  steht dort die psychosoziale Begleitung und  alternative Angebote durch geschultes Personal an erster Stelle.

Auf meine Vermittlung hin, wurde Herr O Anfang März 2014 in besagter Klinik für 6 Wochen  aufgenommen. Seine Frau besuchte ihn meistens am Wochenende.  Schon nach kurzer Zeit konnte sie feststellen, dass er wacher wurde und sich die Gangsicherheit verbessert hatte.  Anfangs habe das Personal noch darauf achten müssen, dass er keine Gelegenheit bekam, Gardienen runter zu ziehen oder  Tische abzuräumen, später sei das kein Thema mehr gewesen, obwohl die Neuroleptika fortwährend reduziert wurden. Die Schreineigung blieb  unverändert.  Hier wurde verschiedenes versucht, jedoch ohne Erfolg.  Als er Anfang Mai 2014 nach Hause entlassen wurde, konnte er wieder problemlos die Treppe zur Wohnung im ersten Stock steigen.  Täglich machte seine Frau längere Spaziergänge mit ihm.  Mit dem Einsteigen ins Auto dauerte es noch eine Weile, bis er sich selbstständig wieder auf den Beifahrersitz setzen und beim öffnen der Tür aussteigen konnte.  Dadurch bestand die Möglichkeit auch mal wegzufahren und andere Spazierstecken zu nehmen.  Eine verbale Verständigung war jedoch gar nicht mehr möglich.  Außer einzelnen Schreilauten, die immer wieder unvermittelt kommen, spricht er nicht.  Mündliche Aufforderungen kann er nicht verstehen.  Er greift auch nicht mehr selbstständig zu einem Glas oder Brot.  Essen und trinken muss angereicht werden.
Im Wachzustand konnte Herr O nicht alleine sein, davon konnte ich mich bei einem Besuch selbst überzeugen. Zum Glück hat er einen guten Schlaf, erklärte seine Frau.  Ohne jedes Medikament schlafe er von abends um 8 bis morgens um 10 fast immer durch.  Mit zwei Aushilfen, die Stundenweise in der Woche kamen, gelang es ihr rund 8 Monate zu überstehen, bis ein Platz in der Einrichtung ihrer Wahl frei wurde.  In diesem Heim gab es auch einigen Stress, vor allem weil das Personal ihre Erfahrungen als pflegende  Angehörige, nicht wert zu schätzen wusste und meinte besser zu wissen, wie man mit diesem Kranken in problematischen Situationen umgeht.  Inzwischen hat sich die Lage entspannt.

Fazit: Solange es übliche Praxis sein darf, störendes Verhalten bei hilfe- und pflegebedürftigen Menschen  medikamentös zu unterbinden, werden die furchtbaren Leidenszustände erzeugt, wie wir sie in den meisten Heimen beobachten können.  Unter dem Vorwand Personal sparen zu müssen, werden unsinnige Kosten erzeugt.  Wir alle, die kranken- und pflegeversicherte deutsche Bevölkerung  zahlen mit jährlich wachsenden Beiträgen für diese krankmachende Medizin.

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