Das Vermächtnis der Cora van der Kooij

Die niederländische Krankenschwester, Pflegewissenschaftlerin und Historikern Dr. Cora van der Kooij ist am 08.08.2018 in ihrer Heimatstadt Utrecht verstorben. Sie wurde 72 Jahre alt.
Ihr Vermächtnis ist die Entwicklung des mäeutischen Pflegemodells. Hinter diesem übersetzungsbedürftigen Namen verbirgt sich im wesendlichen eine Didaktik, die Pflegekräfte befähigt in Kontakt mit Dememzbetroffenen zu treten.   Thomas Nauroth, Qualitätsbeauftragter von Einrichtungen  der Cellitinnen in Köln, hat Cora van der Kooij  kennen und schätzen gelernt.

Zum Leben und Wirken der Cora von der Kooij

Ein Bericht von Thomas Nauroth

Im Jahre 2000 habe ich Cora van der Kooij bei einem ihrer Vorträge über das mäeutische Pflegemodell auf einem KDA-Symposium kennengelernt. Angelehnt an den griechischen Gelehrten Sokrates hat sie die mäeutische Herangehensweise in die Pflege eingeführt. Sokrates versuchte über Fragetechniken seine Schüler zum Nachdenken über philosophische Fragen zu bewegen. Mäeutik heißt übersetzt befreiend, erlösend. Im übertragenen Sinn geht es darum, durch einen dialogischen Prozess unbewußte Kompetenz ins Bewußtsein zu bringen und damit anwendbar zu machen. Cora van der Kooij hat daraus das mäeutisch-didaktische Modell für die Entwicklung von Pflegetalent und Pflegewissen entwickelt. Sie ging also davon aus, dass die Pflegenden neben ihrem professionellen Wissen über intuitives und unbewußtes Wissen verfügen, dass es zu ‚entbinden‘ galt (Mäeutik wird auch als Hebammenkunst bezeichnet).

Cora van der Kooij hat nach ihrer Ausbildung zur Krankenschwester und einem Studium der Geschichte die klassische Validationsausbildung nach Naomi Feil durchlaufen.  Sie sagt selbst, dass sie viel von Naomi Feil gelernt hat, die damals selbst die Kurse geleitet hat. Die Methode der Validation war somit eine gute Grundlage, um selbst zu forschen und die „erlebensorientierte Pflege“ zu entwickeln. Eigentlich läßt sich die Herangehensweise auf alle Klienten, die Pflege bedürfen, anwenden. Cora legte zunächst den Fokus auf demenzbetroffene Menschen, die ihre Bedürfnisse häufig nicht mehr artikulieren können. In der erlebensorientierten Pflege geht es darum, das Erleben des Demenzbetroffenen (besser) verstehen zu können. Hierzu hat sie die Stufen der Demenz eingeführt: das bedrohte Ich, das verirrte Ich,  das verborgene Ich und das versunkene Ich.
Wie fühlt sich beispielsweise ein Mensch mit beginnender Demenz? Er versucht sein Personsein mit allen Mitteln zu erhalten, vielleicht versucht er über Zettel seine Gedächtnislücken zu überbrücken, sicher hat er Angst vor der nahen Zukunft und dem Fortschreiten der Krankheit,  häufig traut der Betroffene anderen Menschen nicht mehr, ist verzweifelt und hilflos: fühlt sich bedroht.  Die Stufen der Demenz lösen sich von den medizinischen Kategorien/Diagnosen; das wahrnehmbare Verhalten, das Fühlen und Erleben steht im Mittelpunkt. Eine erlebensorientierte Pflege gelingt aber nur, wenn alle Teammitglieder davon wissen und danach handeln. Cora führte die mäeutische Bewohnerbesprechung ein, bei der sich die Pflegenden strukturiert Gedanken über den Bewohner machen. Wie erlebt der Bewohner sein Umfeld, seine Mitbewohner, seine Angehörigen? Wie verhält er sich? Ist der Bewohner dement? Welche psychosozialen Bedürfnisse hat er? Woran erkenne ich das? Jeder Teilnehmer berichtet über einen positiven Kontaktmoment, bei dem er den Bewohner auf eine schöne Art und Weise erreicht hat, in einem Moment, in dem der Bewohner, aber auch der Pflegende sich über den Kontakt gefreut haben.  Aus allen gesammelten Informationen werden dann ‚Umgangsempfehlungen‘ entwickelt. Diese dienen dazu, dass der Bewohner sich gekannt und bestätigt fühlt.  Sofern möglich ist es von großem Vorteil, wenn Angehörige an der Besprechung teilnehmen.  Ein gut geführtes Gespräch kann viele Türen öffnen, so dass man mit- und nicht übereinander spricht. Cora ging es darum, alle möglichen Methoden für den guten Kontakt anzuwenden. In der Mäeutik heißt dies ‚suchend reagieren‘.

 „Ob das Suchen sich gelohnt hat, weiß man, sobald es einen Kontakt gibt. Kontakt habe ich definiert als „eine gegenseitige positive Wechselwirkung“, wodurch beide sich von einander verstanden und gewürdigt fühlen. Diese Kontakte führen für die Bewohner oder Klienten zu dem Erleben von Eigenwert und von Geborgenheit.“ (Cora van der Kooij)

Das Zitat zeigt, dass Cora auch das Erleben der Pflegenden in das Modell integrierte, denn nur auf diese Weise fühlen sich Pflegende gesehen und verstanden. In den sogenannten Spannungsfeldern hat Cora die vielfältigen und oftmals spanungsgeladenen Situationen beschrieben, so dass Pflegende sich den Hintergrund ihres eigenen Verhaltens erschließen und besser verstehen können.  Es gibt noch viele weitere Aspekte in ihrem Modell, die aber an dieser Stelle nicht alle aufgeführt werden sollen.

Cora van der Kooij war es wichtig, die Pflege als eigenständige Profession zu stärken und von der Rolle des Handlangers der Ärzteschaft ‚zu befreien‘. Dies gelingt jedoch nur, wenn Pflegende ihre Arbeit auch beschreiben können. Nachfolgend ein weiteres Zitat von Cora:

„Den Begriff „Professionalität“ definiere ich als die Fähigkeit, authentisch und kreativ zu beobachten, zu reagieren und, wenn nötig, zu handeln, und dieses Verhalten anschließend in Worte zu fassen und zu begründen. In diesem Sinne tauscht ein mäeutisch arbeitendes Team immer wieder Erfahrungen aus und stellt sich Fragen: Was bedeutet das Verhalten dieses Bewohners, woher kommt es, was braucht er, wie können wir Kontakt oder sogar eine Beziehung zu Stande bringen?“

In der Seniorenhaus GmbH der Cellitinnen zur hl. Maria arbeiten wir seit 2003 nach dem mäeutischen Pflegemodell, zunächst in einem Modellprojekt in zwei Kölner Seniorenhäusern und nach einer Implementierungsphase in allen Senioreneinrichtungen. Wir haben der Mäeutik ein eigenes Kapitel im Qualitätshandbuch gewidmet. Es geht in erster Linie eine ‚Haltung‘ bei allen Mitarbeitern zu entwickeln, die geprägt ist von Sensibilität und Empathie gegenüber  alternden Menschen und Demenzbetroffenen im Besondern. Cora van der Kooij 2011 hat den ersten Trainerkurs für unser Unternehmen noch selbst geleitet. Sie war immer sehr interessiert, wie die Mäeutik bei uns gelebt wird.

Die Methode und die Bedingungen für die Implementierung hat Cora in ihrer Doktorarbeit dargelegt (Gewoon lief zijn? zu Deutsch: Einfach nett sein?; Das mäeutische Pflegekonzept und die Einführung der integrierten erlebensorientierten Pflege in den psychogeriatrischen Wohnbereichen von Pflegeheimen, 2003). Die Berichte zu dieser randomisierten Studie sind in mehreren englischsprachigen wissenschaftlichen  Artikeln eingeflossen. In ihrem Buch  Ein Lächeln im Vorübergehen hat sie ihre Erfahrungen bezüglich der Implementierung in einem Kapitel zusammengefasst. Es war ihr wichtig, die Mäeutik wissenschaftlich zu verorten und zu untermauern, ohne jedoch den Kontakt zur Basis je zu verlieren. Der Kontakt zu Cora war immer barrierefrei, Sie suchte den Kontakt zur Pflegebasis, um neue Erfahrungen von Pflegenden zu integrieren.

Cora van der Kooij wurde nicht müde, das mäeutische Denken auf weitere Einsatzfelder zu übertragen. In den letzten Jahren hat sie ein Konzept für Menschen mit geistiger Behinderung entwickelt. Sie war eine begeisterte Autorin, die ihre Ideen in ihren Büchern lebendig werden lies. Sie fügte immer viele Beispiele an, so dass ihre Konzepte von den Praktikern gerne gelesen wurden und weiterhin gelesen werden. Ihre drei Krebserkrankungen seit 2008 und die damit verbundene Rolle der ‚Hilfebedürftigen‘ hat sie ebenfalls im Schreiben verarbeitet. Cora van der Kooij hat ihre Betreuung durch Ärzte, Pflegende und zuletzt im Hospiz sehr wertgeschätzt und fühlte sich sehr gut begleitet. Sie nutzte die Zeit der letzten Jahre, um insbesondere ihre Arbeit in Österreich und Deutschland in vertraute Hände weiterzugeben. Die Akademie für Mäeutik e.V. mit Sitz in Köln wurde gegründet, die nun die Arbeit von Cora in Deutschland fortsetzt und in ihrem Sinne weiterentwickelt. Cora hat sehr bewußt die letzten Monate er- und gelebt und konnte ihr Leben ‚abrunden‘, wie sie es mir in einem letzten Telefongespräch erzählte.

Am 08.08.2018 hat sie, liebevoll begleitet von ihrer Familie, ihren Lebenskreis auf dieser Erde beendet. Als aufmerksame, an vielen Themen interessierte und kreative Frau und weise Beraterin fehlt sie sehr.

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Weitere Informationen finden Sie auf der  Webseite der Akademie für Mäeutik Deutschland

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