Joachim Bauer: Neue Aspekte der Alzheimer-Demenz

In folgendem Vortrag, gehalten  am 07.Februar 2003, auf einer Tagung des Vereins AlzheimerEthik, im Düsseldorfer Landtag,  erläuterte Prof. Dr. med. Joachim Bauer, das Ergebnis seiner Untersuchung von Patienten mit der Diagnose Alzheimer.

TITEL:

Die Alzheimer-Demenz: Keine Krankheit, die durch eine Einzelursache zu erklären ist.

Neurobiologische Befunde, über den Einfluss zwischenmenschlicher Erfahrungen auf das Gehirn: Schützende und belastende Faktoren

Eine der Lehren, die uns 150 Jahre naturwissenschaftlich fundierter Medizin gelehrt haben, ist die, dass Krankheiten, von wenigen Ausnahmen abgesehen, keine einfachen Ursachen haben. Dies hat sich nicht nur bei jenen beiden Erkrankungen gezeigt, welche die Liste der Sterblichkeitsverursacher anführen, also bei den Herz-Kreislauf-Erkrankungen und bei den Tumorerkrankungen. Dass ein Schädigungsfaktor für sich alleine nicht ausreicht, um eine Krankheit zu erklären, sondern dass meist weitere begünstigende Bedingungen hinzukommen müssen, insbesondere ein in seiner Funktion bereits beeinträchtigter oder in seiner Abwehr geschwächter Organismus, dies gilt selbst für die Mehrzahl jener Krankheiten, bei denen wir definierte Ursachen oder Erreger kennen.

Der Wunsch, eine und dazu eine möglichst einfache Ursache zu finden, stand auch am Anfang der Alzheimer-Forschung, und dieser Wunsch hat die Forschung bis heute nicht nur begleitet, sondern er hat sie leider auch behindert. Tatsächlich kennen wir heute mindestens 6 unterschiedliche pathologisch relevante Faktoren, die mit der Alzheimer-Krankheit im Zusammenhang stehen: 1. Die Ablagerungen von Amyloid in Form von Amyloidplaques, 2. Eine bestimmte Form des Untergangs von Nervenzellen, was wir als Neurofibrilläre Degeneration bezeichnen, 3. Der Untergang von Nervenzell-Verbindungen, die als Synapsen bezeichnet werden, 4. Verschiedene Entzündungszeichen, 5. Eine bestimmte Lebensweise und 6. ´Genetische Veränderungen, wobei aber nur 1% aller Alzheimer-Kranken an der erblichen Form der Krankheit leiden.

Forscher haben die Angewohnheit, bei den unterschiedlichen Aspekten einer Krankheit denjenigen Einzelfaktor zur Hauptursache der Krankheit zu erklären, den sie selbst am besten erforschen können und den sie demgemäß auch am besten erforscht haben. Die dadurch entstehende Konkurrenz verschiedener Forschungsrichtungen bei ein und derselben Erkrankung könnte sich durchaus produktiv auswirken, wenn die an unterschiedlichen Ansätzen arbeitenden Gruppen ihre Ergebnisse gegenseitig respektieren würden. Im Falle der Alzheimer-Forschung war dies leider über längere Zeit hinweg nicht der Fall. Die weitverbreitete, aber falsche Meinung, dass sich der Urgrund aller Krankheiten ausschließlich in den Genen finden lasse, hat über einen längeren Zeitraum hinweg denjenigen Alzheimer-Forschern, die ihre Forschung dem Amyloidgen, den Presenilingenen und dem ApoE-gen widmeten, praktisch eine Monopolstellung verschafft, die der Alzheimerforschung, wie wir inzwischen erkennen, alles andere als gut getan hat.

Unzählige Studien belegen, dass die Ablagerung von Amyloid nicht der entscheidende Vorgang der Erkrankung ist, dass die Amyloidplaques vielmehr nur eine von mehreren Ursachen der Alzheimer-Krankheit darstellen. Es war bereits Aloys Alzheimer selbst, der dies klar erkannte. Alzheimer hatte zwischen 1907 und 1911 auch in den Hirnen zahlreicher nicht dementer, also geistig bis zum Tode absolut gesunder Menschen z. T. massive Amyloidbeladungen gefunden. Aus diesem Grunde schrieb er 1911, „dass die Drusen (also die Amyloidplaques) nicht die Ursache der senilen Demenz, sondern nur eine Begleiterscheinung der senilen Involution des zentralen Nervensystems sind„ (Alzheimer, 1911; siehe auch Gellerstedt, 1932/1933 und Rothschild, 1936, 1937; Übersicht bei Bauer, 1994).  Nicht nur bei der Amyloidpathologie, auch bei der neurofibrillären Degeneration stellt sich die Frage der Spezifität. Wir sehen die neurofibrilläre Degeneration bei einer ganzen Reihe von Hirnerkrankungen, so daß die Neuropathologen mit Recht annehmen, daß diese von Alzheimer entdeckte Form des Nervenzell-Untergangs eine Art gemeinsame Endstrecke bei einer ganzen Reihe unterschiedlicher Hirnerkrankungen ist. Sowohl die Amyloidpathologie als  auch die neurofibrilläre Degeneration haben sich, für sich alleine betrachtet, als eine weder notwendige noch hinreichende Bedingung für die Entwicklung einer Alzheimer´schen Demenzerkrankung herausgestellt.

Genetische Veränderungen an den Genen des Presenilin-1, des Presenilin- 2 und am Amyloidprekursorprotein- Gen lassen sich nur bei etwa 1% – 2% aller Alzheimer-Krankheitsfälle nachweisen und wurden in ihrer pathogenetischen bzw. epidemiologischen Bedeutung völlig überschätzt. Die Alzheimer- Krankheit ist in der ganz überwiegenden Zahl der Fälle keine erbliche Erkrankung, was für die Familien, besonders für die Nachkommen von großer Bedeutung ist. Auch dem Polymorphismus des Apolipoprotein- Gens kommt nicht die Bedeutung zu, welche ihm vorübergehend zugeschrieben wurde. Das Vorhandensein der genetischen ApoE-4- Variante ist nach übereinstimmender Einschätzung der Experten weder eine notwendige noch eine hinreichende Voraussetzung für die Alzheimer- Krankheit und ist als diagnostischer Marker definitiv ungeeignet (Consensus Statement, JAMA 1995; 274:1627).

Eine große Zahl exzellent durchgeführter elektronenmikroskopischer Untersuchungen konnten zeigen, dass – im Gegensatz zur Amyloidpathologie und zur neurofibrillären Degeneration – der Verlust von kortikalen Synapsen ein markanter, spezifischer und darüber hinaus ein mit dem Grad der Demenz aufs engste korrelierter Befund bei Alzheimer- Patienten ist (Terry, 1991; Übersicht bei Bauer, 1994 und Masliah, 1995). Synapsen sind die Kontaktstellen zwischen Nervenzellen, an denen mittels Ausschüttung von Botenstoffen, sogenannten Neurotransmittern, der Nachrichtenaustausch zwischen den Nervenzellen stattfindet. Jede der über 10 Milliarden Nervenzellen der Hirnrinde steht über Synapsen mit jeweils bis zu 10 000 anderen Nervenzellen in Verbindung.

Die Beziehung zwischen persönlichen Erfahrungen, Lebensweise und synaptischen Verbindungen von Nervenzellen

Die „Grundausstattung“ des gesamten menschlichen Gehirns besteht nach neuesten Schätzungen aus über 20 Milliarden (d. h. über 20×109) Nervenzellen. Davon stehen über 10 Milliarden Nervenzellen dem mit seinen Windungen über die Hirn- Oberfläche ausgebreiteten Hirnmantel (Cortex) zur Verfügung. Im Hirnmantel (Cortex) haben die „höheren“ Wahrnehmungs- und Steuerungsfunktionen ihren Sitz, hier ist unsere intellektuelle Intelligenz beheimatet.

Das Gehirn lässt Denken und Fühlen, Wahrnehmen und Beurteilen, Planen und Handeln durch eine Arbeitsweise geschehen, die auf einer einheitlichen Grundregel beruht: Alle mentalen Operationen werden durch Verbindung von Nervenzellen (oder von Nervenzell- Gruppen) ermöglicht. Diese Verbindungen werden durch Fortsätze vollzogen, die jede Nervenzelle in ihr näheres und in ihr weiteres Umfeld schickt. An den Enden dieser Fortsätze befinden sich kleine Kontaktflächen, die Verbindung zu einer anderen Zelle haben und eine sogenannte Synapse bilden. Jede Nervenzelle ist mit bis zu 10.000 solcher Synapsen mit anderen Nervenzellen „verbunden“, „verschaltet“ oder „verknüpft“. Synapsen dienen dem Austausch von Nerven- Botenstoffen („Neurotransmitter“). Auf der Verbindung zwischen Nervenzellen der Hirnrinde beruhen alle geistigen Vorgänge, von einfachen Wahrnehmungen angefangen bis hin zur Fähigkeit, komplexe oder abstrakten Vorstellungen und gedankliche Operationen auszuführen. Komplexe Wahrnehmungen und Vorstellung beruhen auf synaptischen Verschaltungen von Nervenzellen zu Nervenzell-Netzwerken.

Eine große Zahl faszinierender neurobiologischer Studien der letzten Jahre hat nun folgendes gezeigt: Synaptische Verbindungen zwischen den Nervenzellen der Hirnrinde sind keine festinstallierte „Hardware“. Synapsen entstehen und bleiben nur dann erhalten, wenn sie auch gebraucht werden. Synaptische Aktivität hat den Erhalt und die strukturelle Verstärkung der Synapse und der beiden an ihr beteiligten Nervenzellen zur Folge. Fehlende geistig-seelische oder fehlende körperliche Aktivität kann zur strukturellen Auflösung der synaptischen Verbindung und in der Folge sogar zur Schädigung der beteiligten Neurone führen. Dieses Phänomen wird als „neuronale Plastizität“ bezeichnet (Übersichten bei Merzenich, 1990; Swaab, 1991). Nicht nur einzelne Nervenzellen, die durch Synapsen miteinander verbunden sind, und die über ihre Synapse aktiviert werden, verstärken ihre synaptische Verknüpfung. Das gleiche passiert mit Nervenzell-Netzwerken: Netzwerke, die bioelektrisch gemeinsam „feuern“ verstärken das interne synaptische Verknüpfungssystem. Amerikanische Neurobiologen sagen: „Cells that fire together wire together“ („Zellen die zusammen feuern, verkabeln sich stärker miteinander“). Alle Synapsen, die aktiv sind und an denen Signale ausgetauscht werden, werden also strukturell stabilisiert.

Auch Synapsen,  die wir im Rahmen von seelisch-geistiger Aktivität benützen, werden stabilisiert oder verstärkt. Synapsen, deren Gebrauch zurückgeht, können ganz verloren gehen. Amerikanische Neurobiologen haben dies als „Use it or lose it“ – Regel bezeichnet („Mache Gebrauch von ihr oder verliere sie“). Dies bedeutet konkret, dass die Nervenzell- Netzwerke, die häufig ausgeübte Wahrnehmungen, Denkvorgänge oder Tätigkeiten repräsentieren, ein Strukturstabilität gewinnen, während wenig „trainierte“ gedankliche Operationen oder Tätigkeiten dazu führen, dass „ihre“ Netzwerke geschwächt werden oder sich gänzlich auflösen.

Zwischenmenschliche Beziehungen und der Erhalt oder Untergang von Synapsen

Auch Wahrnehmungs- und Verhaltensmuster aus dem zwischenmenschlichen Beziehungsbereich werden in Nervenzell- Netzwerken gespeichert. Erlebnisse und Erfahrungen aus Beziehungen formen neuronale Netzwerke. Denkweisen, Interpretationsstile und der Umgang mit Alltags-Situationen wird in Netzwerken kodiert und abgespeichert. Bisherige Erlebnisse und Erfahrungen prägen neuronale Netzwerke. Neuronale Netzwerke kodieren also auch zwischenmenschliche Beziehungsmuster.

Die Bildung von Nervenzell- Netzwerken unter dem Einfluss der Gestaltung von Beziehungen beginnt mit der Geburt. Eine Reihe von aufsehenerregenden Studien hat die massiven Effekte belegt, die Anregungen und Erfahrungen auf die Hirnstrukturen des Kindes haben können. Was Umwelten für die Entwicklung und für die Feinstrukturen des Gehirns bedeuten, wurde in tierexperimentellen Untersuchungen bis ins Detail analysiert. In abwechslungsreicher und anregender Umgebung gehaltene Tiere zeigen 1. eine größere Dicke und ein höheres Gewicht der Hirnrinde; 2. eine größere Zahl von Nervenzellen; 3. ein höheres Maß von Verzweigungen der Nervenzell- Fortsätze; 4. eine höhere Dichte an Synapsen; außerdem hatten die Tiere mit abwechslungsreicher Umgebung 5. deutlich bessere Testwerte bei Aufgaben, in denen Intelligenz gefordert ist (z. B. beim Herausfinden aus einem Labyrinth u. Ä.). Positive Effekte einer abwechslungsreichen  und anregenden Umgebung auf die Hirnstruktur liessen sich nicht nur bei jüngeren, sondern  auch bei ausgewachsenen Tieren zeigen.

Die aktive Benützung von Nervenzell- Netzwerken aktiviert in den beteiligten Nervenzellen Gene (insbesondere Nervenwachstums- Gene), welche zur Stabilisierung und zum Ausbau von viel benützten Netzwerken und zur Vermehrung ihrer synaptischen Verschaltungen führen. Umgekehrt konnte gezeigt werden: Angst, Überforderung und Stress führen im Gehirn zur Abschaltung von Nervenwachstumsgenen und stattdessen zur Aktivierung einer Reihe von Stressgenen, deren Produkte Nervenzellen schädigen und sogar zerstören können. Zahlreiche Studien konnten folgendes nachweisen: Im Dauerstress befindliche Lebenwesen, egal ob Tier oder Mensch, zeigen eine meßbare Verminderung der Hirnsubstanz, und zwar besonders in einer für das Gedächtnis entscheidenden Region, nämlich im Hippocampus. Der Hippocampus ist zugleich jene Hirnregion, die bei der Alzheimer-Krankheit eine besonders ausgeprägte Volumenminderung zeigt.

Wir sehen, also, dass bei der Formung des Gehirns genetische Veranlagungsfaktoren und Erfahrungen bzw. Lebensweisen des Individuums in engster Weise zusammenwirken. Der amerikanische Hirnforscher Torsten Wiesel fasste es in einem der Spitzenjournale der Wissenschaft, nämlich im Magazin Science, wie folgt zusammen: „Gene welche das Wachstum des Embryos kontrollieren formen die grobe Struktur des kindlichen Gehirns. Doch die Erfahrungen des Kindes in der Welt sind es, welche die Feinstrukturen der Nervenzellverbindungen gestalten. Von diesen Feinstrukturen hängt die Funktionsfähigkeit des Gehirns ab. Die Gestaltung der Feinstrukturen durch Erfahrungen in der Welt geht das ganze Leben hindurch weiter“ (Wiesel, 1994).

Ein anderer amerikanischer Hirnforscher, Leon Eisenberg, brachte es im American Journal of Psychiatry auf folgenden Nenner: „Der grobe Grundplan Gehirns wird durch die Gene bestimmt, die neuroanatomischen Details entwickeln sich jedoch abhängig davon, in welcher Weise das Individuum aktiv ist. Die Umwelt beginnend mit der intrauterinen Umgebung der Gebärmutter, führt dem Individuum diejenigen Reize zu, die für die Entwicklung des Gehirns benötigt werden. Die Entdeckung daß das Gehirn zu einer massiven Reorganisation seiner eigenen Feinstruktur fähig ist, macht eine radikale Revision unserer bisherigen traditionellen Ansichten notwendig, nach denen wir uns das Gehirn als ein anatomisch festgelegtes Organ vorstellten. Auf der Ebene der Merbenzellen wird die Architektur des Gehirnrinde bestimmt durch Signale, die aus der sozialen Umwelt kommen. Seelische Störungen entstehen an der Schnittstelle zwischen Gehirn und sozialer Umgebung. Diese Bedeutung von psychosozialen Faktoren trifft auch für Alzheimer-Kankheit zu“ (Eisenberg, 1995).

Bezüge zwischen psychosozialer Umwelt, Biografie und neuronaler Funktion bei Alzheimer-Kranken

Eine ganze Reihe von Forschergruppen einschließlich der Arbeitsgruppe von Prof. Kropiunigg und meiner eigenen Arbeitsgruppe haben sich nun Folgendes gefragt: Lässt sich die Alzheimer-Krankheit vor dem Hintergrund der Erkenntnisse über die neuronale Plastizität als ein psychobiologischer Prozess verstehen? Lassen sich Hinweise darauf finden, dass   bei Alzheimer-Patienten in den Jahren und Jahrzehnten vor dem Auftreten erster Symptome eine seelisch-geistig weniger aktive Lebensweise vorhanden oder möglicherweise eine höhere Dosis von erlebtem Stress vorhanden war? Wenn dem so wäre, dann wäre die Lebensweise, besonders die Art der zwischenmenschlichen Beziehungsgestaltung der Patienten nicht nur ein krankheitsbegünstigender Faktor, sondern vielleicht auch ein wichtiger therapeutischer Ansatzpunkt (Bauer, 1995, 1997, 1998).

Zahlreiche Untersuchungen von Forschergruppen aus den USA, Japan und aus verschiedenen europäischen Staaten haben aufwendige Lebenslaufstudien durchgeführt und haben diese Annahme eindrucksvoll und übereinstimmend bestätigt. Die Untersuchungen von Prof. Kropiunigg und meiner eigenen Arbeitsgruppe gehörten mit zu den ersten Studien dieser Art. Während wir seinerzeit von sehr vielen Forscher-Kollegen, insbesondere von einigen Amyloidpäpsten noch für möglicherweise leicht verrückt erklärt wurden, sind mittlerweile Studien in den allerbesten amerikanischen Topzeitschriften erschienen, die unsere Ergebnisse eindrucksvoll und in vollem Umfang bestätigen. Die letzte Aufsehen erregende Publikation einer langen Serie von Studien war eine von Robert Friedland von der Universität Cleveland durchgeführte Untersuchung, die im Frühjahr 2001 in einer wissenschaftlichen Spitzenzeitschrift, nämlich in den Proceedings of the National Academy of Sciences publiziert wurde. Robert Friedland fand, ähnlich wie viele andere Studien zuvor, Folgendes: Seelisch-geistige Aktivität und die Ausübung aktiver Hobbies in der Lebensphase zwischen dem 20. und 60. Lebensjahr vermindert das Risiko, später an Alzheimer zu erkranken, um das dreifache. Andrerseits fanden sie: Fernsehen und andere Merkmale eines passiven Lebensstils erhöhen das Risiko einer späteren Alzheimer-Krankheit.

Auch die Analyse der von uns untersuchten Alzheimer- Biografien zeigte ein einheitliches Muster des Lebensstils, insbesondere bei der Gestaltung der Partnerschaftsbeziehungen der später an Alzheimer erkrankten Personen (Bauer, 1995, 1998). Die später Erkrankten wurden zwar durchweg als warmherzig, mitfühlend, anteilnehmend und weich beschrieben. Unsere Studie zeigte jedoch: Entscheidungsfindungen und Problemlöse-Aufgaben im Alltag wurden von jenen, die später an Alzheimer erkrankten, vorzugsweise dem Partner oder anderen Bezugspersonen in der persönlichen Umgebung überlassen. Die später Erkrankten hatten sich in ihrem sozialen Umfeld in hohem Maße von der selbständigen und aktiven Gestaltung ihrer Lebensverhältnisse zurückgezogen. Auch die sogenannte „Definitionsmacht“, also wie Vorgänge im beruflichen und familiären Alltag einzuschätzen und  zu bewerten sind wurde von den später Erkrankten an Bezugspersonen, in der Regel an den Partner übertragen (das Fehlen von Definitionsmacht wurde von Barbara Hanson als „definitional deficit“ bezeichnet; Hanson, 1989). Dies entspricht einer Beobachtung, welche auch die amerikanische Psychologin Barbara Hanson machte („… it is in families in which a member is excluded from the process of reality construction that symptoms of senile dementia, or other pathologies, will be promoted“, Hanson, 1989).

Unsere Studie zeigte, ähnlich wie weitere Studien anderer Autoren: In vielen Fällen war der Status der später an Alzheimer Erkrankten innerhalb ihrer Familie untergeordnet und charakterisiert durch die Dominanz entscheidungsstarker Bezugspersonen. Weder der Patient noch der/die Partner/in trägt an diesem Ungleichgewicht Schuld. Vielmehr befinden sich beide Partner in einer Art Falle, aus der beide kaum herauskommen können: Die später an Alzheimer Erkrankten sind, obwohl sie die Dominanz des Partner oft als aversiv erleben, letztlich doch dankbar, dass ihnen der kompetente Partner im Alltag alle konfliktträchtige Entscheidungen abnimmt. Die kompetenten Partner wiederum leben sich, wiewohl sie die ihnen übertragene Rolle des Alleinentscheiders oft als anstrengend erleben, zunehmend in ihre dominante Rolle ein und entwickeln langsam das Gefühl, den Partner gar nicht mehr alleine entscheiden lassen zu sollen.

In den von uns untersuchten Biografien hatte die langjährige Beziehungsgestaltung vor Einsetzen erster Erkrankungssymptome ein erhebliches Ausmaß an alltagspraktischer Abhängigkeit der später Erkrankten von ihrem Partner zur Folge. Relativ kurze Zeit, etwa ½ bis 2 Jahre vor Beginn erster klinischer Zeichen der Demenz fand sich bei allen später Erkrankten ein schweres Stress- bzw. Belastungsereignis. Wie sah dieses Stressereignis aus? Bei den meisten der später Erkrankten bestand das Stressereignis in einem akuten Wegfall der stützenden Funktion von Bezugspersonen. Dieser Wegfall der stützenden Funktion von Bezugspersonen war in der Regel die Folge eines zwischenmenschlichen Konfliktes (allerdings kann, wie wir in einigen Fällen sahen, auch der Tod des stützenden Partners die Ursache sein). Der Konflikt konnte sich entweder am Arbeitsplatz oder auch zuhause entwickelt haben. Bei den von uns untersuchten Lebensläufen zeigte sich: Die später Erkrankten waren durch Belastungsereignisse der geschilderten Art in eine von ihnen als ausweglos erlebte Situation geraten.

Vor dem Hintergrund der eingangs geschilderten psycho-biologischen Zusammenhang zwischen psychosozialer Aktivität, neuronaler Funktion und synaptischer Feinstruktur vermuten wir, zusammen mit vielen anderen Forschergruppen, heute Folgendes: Personen, die später an Alzheimer erkranken, erleiden in den Jahrzehnten vor Beginn der Erkrankung aufgrund einer wenig ausgeprägten seelisch-geistigen Selbstbestimmung einen Rückgang von Synapsen in Nervenzell-Netzwerken, die zuständig sind für abstraktes Denken und für Problemlöseaufgaben. Auf diese langfristige Entwicklung setzt sich dann, relativ kurz vor Ausbruch der Erkrankung, noch ein Stressereignis oben drauf, welches dann den irreversiblen Prozess der Erkrankung einleitet.

Therapeutische Konsequenzen und gesundheitspolitische Forderungen

Die Situation von Alzheimer-Kranken im Frühstadium und ihrer engsten Angehörigen ist durch eine beiderseitige massive seelische Belastung gekennzeichnet. Die im Frühstadium der Erkrankung stehenden Patienten befinden sich in einer meist durch schwere Verunsicherung und Ängstlichkeit charakterisierten Situation und sind bezüglich ihrer Lebensgestaltung in einem weit höheren Maße inaktiviert als dies durch die Krankheit geboten wäre. Die Situation der engsten Angehörigen (in der Regel die Lebenspartner) ist durch massive Inanspruchnahme, ängstliche Fürsorge und durch ein sich anbahnendes Erschöpfungssyndrom gekennzeichnet. Da sich inaktivierende Lebensstile und Stresserfahrungen als eindeutige neurobiologische Schädigungsfaktoren erwiesen haben, sollte das Hauptziel einer Therapie bei Alzheimer-Kranken im Frühstadium darin bestehen, durch geeignete milieutherapeutische und psychotherapeutische Hilfen einerseits einer geistig-seelischen Inaktivierung des Patienten entgegenzuwirken, andrerseits überfordernde und stresserzeugende Umgebungsbedingungen zu vermeiden. Da der Kranke und sein engster Angehöriger ein Beziehungssystem bilden und aufeinander angewiesen sind, sind Interventionen nur dann sinnvoll, wenn Patient und Angehöriger gemeinsam psychotherapeutische Hilfe erhalten.

Wissenschaftliche Untersuchungen einer Arbeitsgruppe um Mary Mittelman aus New York zeigen, dass auf das Beziehungssystem des Patienten ausgerichtete Interventionen (also Paar- und/oder Familientherapie) zu einer massiven seelischen Entlastung von Patient und Angehörigem führen und bereits in relativ geringer Therapie-„Dosis“  signifikante positive Effekte auf den Krankheitsverlauf zeigen. Aus gesundheitspolitischer Sicht bedeutsam erscheint, dass, wie die Studie von Mary Mittelman zeigte, durch eine paar- und familientherapeutische Intervention insbesondere  die kostenrelevante Übersiedlung aus der Familie in ein Heim signifikant hinausgezögert werden konnte. Eigene Erfahrungen, die wir mit einer stützenden psychotherapeutischen Behandlung von Alzheimer-Kranken und ihren Angehörigen machten, bestätigen die Erfahrungen von Mary Mittelman.

Eine wesentliche Forderung für die Behandlung von Alzheimer-Kranken besteht aus meiner Sicht daher darin, daß Alzheimer-Kranke im Frühstadium sowie der Haupt- Angehörige das Angebot einer stützenden psychotherapeutischen Behandlung, idealer Weise eine paar- oder familientherapeutische Behandlung  erhalten sollten.

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weiteres unter:   www.psychotherapie-prof-bauer.de/Alzheimerframe.htm

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Der Autor:

Prof. Dr. med. Joachim Bauer

Facharzt für Innere Medizin, Psychiatrie und Psychotherapie

Uniklinikum Freiburg, Abteilung Psychosomatische Medizin

Hauptstrasse 8, 79104 Freiburg, (0761) 270 6539

Joachim_Bauer@psysom.ukl.uni-freiburg.de

www.psychotherapie-prof-bauer.de

 

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