Integrierte Medizin

Buchempfehlung
Integrierte Medizin: Modell und klinische Praxis
Herausgegeben von: Thure von Uexküll, Werner Geigges, Reinhard Plassmann, unter Mitarbeit von: Angela von Arnim, Joachim Bauer, Sabine Emmerich, Doris Kühnelt, Gerlind Leiniger, Manfred Sauer, Michael Schütz, Werner Stadlmayr,  Verlag Schattauer, Stuttgart 2002


Dieses Buch dokumentiert das Ergebnis einer Gruppenarbeit psychosomatisch ausgerichteter Ärzte, die sich unter der Leitung von Prof. Thure von Uexküll seit sechs Jahren regelmäßig treffen, mit dem Ziel: „ein Modell für eine Heilkunde zu entwickeln, die den Dualismus einer Medizin für Körper ohne Seelen und einer Psychologie für Seelen ohne Körper überwindet. Diese Heilkunde soll in der Lage sein, die biologischen, psychischen und sozialen Aspekte menschlichen Lebens nicht nur additiv, sondern integrativ, d.h. als einander ergänzende und beeinflussende Aspekte zu verstehen.“ (T.v.Uexküll)

Ausgehend vom Verständnis, dass lebende Systeme „Einheiten aus Organismus und Umwelt“ sind, wird zunächst eine Theorie der integrierten Medizin entwickelt, wobei spezifische Begriffe ausführlich definiert werden. Anschaulicher wird es in den weiteren Kapiteln, in denen an Beispielen aus verschiedenen Bereichen der klinischen Praxis die Bedeutung und Anwendung dieses Modells erläutert wird. Auf diese Weise soll „die Praxis von der Theorie her und die Theorie von der Praxis her transparent gemacht werden, sodass das theoretische Modell ein „lernendes Modell“ bleibt.“ (W.Geigges)

Tatsächlich findet man in diesem Buch sehr überzeugende Beispiele für den in unserem Gesundheitswesen allgemein unterschätzten Einfluss des seelischen auf den Krankheitsverlauf. Es wird deutlich, dass Heilung jeweils in dem Maße erzielt werden kann, wie es gelingt, das gestörte Verhältnis des Kranken zu seinem Umfeld zu verbessern. Selbst in Fällen die in den Augen der klassischen Medizin aussichtslos erschienen, hatte das integrative Vorgehen Erfolg.

Auf der Suche nach Bestätigung meiner Beobachtungen zu den Ursachen der Alzheimerkrankheit, wurde ich auf dieses Buch aufmerksam gemacht, genauer gesagt auf den Beitrag: „Psychobiologie der Alzheimer-Krankheit“ von Prof. Joachim Bauer, Facharzt für innere Medizin und Psychosomatik an der Universitätsklinik Freiburg. Seine Forschungsergebnisse des Zusammenhangs zwischen bestimmten seelischen Belastungen und dem Zerfall von Synapsen widerlegen nicht nur die Theorie, primär organischer Ursachen, sie eröffnen zugleich erstmals eine Perspektive für Prävention und Heilung dieser Krankheit. Unter Einbezug der Forschungsergebnisse anderer Wissenschaftler verdeutlicht Bauer, dass „neurogene Netzwerke keine festinstallierte Hardware“ sind. Wie elektronenmikroskopisch nachgewiesen werden kann, stehen Bildung oder Zerfall von Synapsen in einem unmittelbaren Zusammenhang mit geistigen Entwicklungsprozessen. Kinder die geistig stark gefördert wurden entwickelten komplexere neurogene Netze, als solche die wenig gefördert wurden. Umgekehrt konnte bei Alzheimerkranken festgestellt werden, dass der Verlust geistiger Interessen in schwerwiegenden Fällen zum Abbau von Synapsen führt. Das Netzwerk bekommt Löcher. Der Betroffene hat nur noch Zugang zu den Daten/Zellen mit einer intakten Verbindung. Alles andere ist für sein Bewusstsein unerreichbar – so sehr er sich bemüht die Erinnerung zurückzugewinnen. Da die betroffenen Zellen keine Aufgabe mehr haben, nicht mehr angesprochen und gefordert werden, degenerieren sie schließlich. So, die naheliegende Schlussfolgerung. Wie man es auch dreht und wendet, dieser Kausalkreis ist im Unterschied zu allen anderen Erklärungsmodellen rund, nachvollziehbar und in sich stimmig. Grund genug, sich ernsthaft damit zu beschäftigen!!! Nimmt man diese Forschungserkenntnis ernst, müsste die Einflussnahme des geistigen auf das körperliche allgemein höher eingestuft werden, als umgekehrt.

Ein eindrucksvolles Beispiel der zentralen Bedeutung einer geistig-seelisch passenden Nahrung für den Heilungsprozess, gibt der Beitrag von Prof. Dr. med Manfred Sauer und Dipl.-Psych. Dipl.-Päd. Sabine Emmerich: „Das Bewusstwerden nach Koma“. Hier werden zwei vergleichbare Fälle gegenübergestellt: fünfjährige Kinder die nach einem Schädel-Hirn-Trauma 14 Tage im Koma lagen, wobei sich Kind A trotz organisch schwerwiegenderer Schäden geistig nahezu vollständig erholen konnte, während Kind B in einer Art Wachkoma bzw. schwer debilem Zustand blieb und vermutlich zeitlebens pflegeabhängig bleiben wird. Die Behandlung des kranken Körpers erfolgte in beiden Fällen nach den gleichen Richtlinien, die Kinder lagen in der selben Klinik. Der entscheidende Unterschied bestand in der seelisch-geistigen Ansprache. Im ersten Falle taten die Eltern alles, um den Kontakt zu ihrer geliebten Tochter wieder herzustellen und ihr die Erinnerung zurückzugeben. Im zweiten Falle lag hingegen nicht nur ein körperliches Trauma vor, dieses Mädchen war das Opfer seelischer und körperlicher Misshandlungen im Elternhaus. So fand sich in seinem Umfeld keine Menschenseele, die die Zeit und Liebe aufgebracht hätte, die nötig gewesen wäre, um es wieder ins Bewusstsein zurückzuholen.

Auch in den anderen in diesem Buch geschilderten Krankengeschichten, wird vor allem eins deutlich: Das Heilungsergebnis steht jeweils in direktem Zusammenhang mit der Qualität der Beziehungen des Kranken zu seiner Umwelt. Demnach besteht die eigentliche Heilkunst darin, sich in die Situation des Kranken zu versetzen, zu erkennen was ihn in diese Situation gebracht hat und zu überlegen wie man ihm aus der misslichen Lage heraushelfen kann. Schafft es der ‚Arzt‘, den Kranken dort abzuholen wo dieser mit seinem Fühlen und Denken steht, kann er ihn schrittweise aus der Gefahrenlage herausgeleiten, bis dieser schließlich alleine wieder zurechtkommt. Anderenfalls wird kein Medikament, keine medizinische Intervention die chronische Verschlechterung seines Zustandes aufhalten. So lässt sich mit anderen Worten, der Wertgehalt und die Botschaft dieses Buches zusammenfassen.

Leider heben die Autoren den aus meiner Sicht eigentlichen Wertgehalt weniger deutlich hervor. Vielmehr tritt er hinter der Fassade des Modells zurück, um dessen Vermittlung es den Autoren in erster Linie geht. Die Beispiele dienen als Mittel zum Zweck. So habe ich mich fortwährend gefragt, warum dieser Umweg über ein derart künstliches Modell? Die Zusammenhänge liegen doch klar auf der Hand! Anstatt diese so einfach und allgemeinverständlich wie möglich zu erklären, verfasste man sie in einer Weise die nicht nur das Lesen mühsam macht, sondern auch das Erkennen der Botschaft. Die klinischen Fälle sprechen für sich und dafür, dass dem Psychischen Vorrang vor der körperlichen Behandlung eingeräumt werden müsste. Vermutlich wollten die Autoren so weit nicht gehen, weil sie die Praxis kennen, mithin die Widerstände von Seiten der rein somatisch orientierten Ärzte. Bedenkt man, dass die heutige Medizin in Theorie wie Praxis zu 90 Prozent organbezogene ist, wäre schon viel erreicht, wenn diese Beispiele Schule machten und hierdurch ein wenigstens etwas ausgewogeneres Verhältnis erreicht werden könnte.

Mir stellte sich nach der Lektüre dieses Buches erneut die Frage: Wie lange werden wir uns eine Medizin noch leisten können, die sich mit immer höherem Forschungs- und Therapieaufwand einseitig auf den Körper konzentriert und die eigentlich krankmachende bzw. heilbringende Quelle unbeachtet lässt? Wie lange wird es noch dauern, bis sich die Erkenntnis durchsetzt, dass der Anstieg chronischer Krankheitsfälle und die damit einhergehende Kostenexplosion im Gesundheitswesen, im wesentlichen eine Folge dieser körperorientierten Medizin ist?

Ich bedaure, dass namhafte Ärzte wie Thure von Uexküll nicht deutlichere Worte finden, um diesen Umdenkprozess zu fördern. Wenn Sie mich fragen, brauchen wir eine Medizin, die die Person in den Mittelpunkt stellt und nicht Laborwerte, Genanalyse, Symptome, Medikamente, Modelle, Theorien oder Therapien. Statt der Symptom- und Leistungsorientierung brauchen wir eine stärkere Ergebnisorientierung: Ein Gesundheitssystem, in dem langfristig nur die Therapeuten und Therapieformen bestand haben, die im Vergleich zu anderen mit dem geringsten Kostenaufwand den größten Nutzen bringen. Bei Einführung eines solchen Systems würden sich die Ärzte sehr schnell auf das Wesen der Heilkunst besinnen.

Buchbesprechung: Adelheid von Stösser, September 2002

Nachtrag September 2015:
Der Wegbereiter der Psychosomatischen Medizin, Thure von Uexküll (1909-2004), zählt für mich zu den bedeutensten Ärzten der Neuzeit. Während sich die Medizin als Wissenschaft auf den Körper konzentrierte, lenkte von Uexküll, den Blick auf den Menschen im Körper.   In der nach ihm benannten Akademie, engagieren sich Ärzte in seinem Sinne, dieses 2013 herausgegebenen Titels: Auf der Suche nach der verlorenen Kunst des Heilens

 

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