Wenn Ängste im Alter verrückt machen.

Im Folgenden beschreibe ich die Erfahrung mit unserer Mutter, die bis kurz nach ihrem 95. Geburtstag am 25. Februar 2025 mit geringer Hilfe in ihrem Zuhause (Elternhaus) zurechtkam. Ihr jüngster Sohn, ihre Schwiegertochter und zwei Enkel wohnten im Obergeschoss und im Nachbarhaus. Zwei weitere Söhne und Schwiegertöchter wohnten im Ort, ebenso wie drei Enkelinnen mit Familie.  Auch sonst war Mutter umgeben von vertrauten Menschen. Jeder im Ort kennt sie, denn sie ist inzwischen die älteste Bewohnerin in der gesamten Pfarrei, was sie bei jeder Gelegenheit erwähnt. Ihr 95. Geburtstag wurde  groß im Bürgerhaus gefeiert. Der  Chor, in dem sie über 60 Jahre aktive Sängerin war, trug ihre Lieblingslieder vor. Darunter auch „Wenn ich ein Glöcklein wär….“,  in dem die Jubilarin sogar selbst den Solopart sang, mit dem sie in früheren Jahren regelmäßig für Gänsehaut gesorgt hatte.     Es war ein wunderschönes Fest, alle waren froh und zufrieden, und die Jubilarin wusste gar nicht, wo sie mit ihrer  Begeisterung hin sollte. Mutter war tagelang völlig aufgedreht.  Vermutlich war es zu viel des Guten.
Anfang März fand die Schwiegertochter sie in besorgniserregendem Zustand vor.  Der Hausarzt konnte keine Erklärung  finden, vermutete einen Infekt und verschrieb ein Antibiotikum.  In den Folgetagen schlief sie mit kurzen Unterbrechungen  tief und fest. Wenn sie wach wurde, trank sie ein paar Schlucke, ging mit Hilfe auf den Toilettenstuhl, legte sich wieder zur Seite und schlief auf der Stelle ein. Meine beiden Schwestern und ich  übernachteten im Wechsel bei ihr. Tagsüber kümmerte sich die Familie vor Ort. Wir rechneten damit, dass unsere Mutter/Oma stirbt. Kann man sich ein schöneres Lebensende wünschen: In hohem Alter,  nach einem wunderbaren Fest der Ehrerbietung,  einfach einschlafen zu dürfen und so bei allen in guter Erinnerung zu bleiben?  Leider nahm ihr Leben eine andere Wende.

„Ich weiß nicht mehr, was mit mir los ist.“

Nach etwa drei Wochen Bettlägerigkeit stand Mutter wieder auf. Sie wusste nicht ob sie sich freuen sollte –  wir auch nicht.  „Ich weiß nicht mehr, was mit mir los ist. – Irgendwas stimmt mit mir nicht.“, sind Sätze, mit denen sie seither täglich ihr Empfinden beschreibt.  Nach der  langen Schlafphase war die Erinnerung an ihre jüngste Vergangenheit weg.  Die Bilder von ihrem Geburtstags schienen gelöscht. Auch Fotos vermochten die Erinnerung nicht zurückzuholen.  Ihren Kindern und  Enkeln,  die regelmäßig nach ihr schauten und sich kümmerten, warf sie vor: „Ihr lasst mich hier den ganzen Tag allein. Keiner kümmert sich um mich.“  Kaum hatte jemand ihr den Rücken gedreht, wusste sie nicht mehr, dass er da war. Aus den Augen aus dem Sinn. Mutter fand sich in ihrem Leben nicht mehr zurecht.  Wusste nicht, ob sie etwas gegessen hatte. Sie war nicht einmal mehr in der Lage, sich ein Wasser zu holen, einen Kaffee oder Tee zu kochen.  Stellte man ihr etwas zu essen hin, aß sie es.  Anfangs war sie noch sehr wackelig auf den Beinen, vergaß oft den Rollator  oder wusste nicht, wo dieser stand.  Sie konnte sich mit nichts beschäftigen. Blätterte in verschiedenen Heften herum, verstand jedoch nicht, was sie las, und legte diese wieder weg.  War niemand bei ihr, legte sie sich aufs Sofa oder ins Bett.  Hilfe bei der Körperpflege lehnte sie mit zunehmender Wachheit ab. Der Pflegedienst, der zeitweise morgens zum Waschen kam, musste oft unverrichteter Dingen wieder fahren.

„Warum träume ich denn nur so dummes Zeug?“

Hatte Mutter  im März eher beängstigend lautlos geschlafen, wurden die Nächte  jetzt zur Herausforderung.  Sie schlief unruhiger, schrie plötzlich laut um Hilfe und verließ in panischer Angst ihr Zimmer.  Da sei ein Mann,  der ihr nachstelle. Sie versuche sich zu verstecken, aber er würde sie immer wieder finden. Plötzlich tauche er wieder aus einer Ecke auf. Sie laufe weg, er laufe hinterher, komme immer näher. Ich solle die Polizei rufen, denn es sei ein gefährlicher Verbrecher.  Ich gehe  in ihr  Zimmer, bleibe einige Minuten dort und erkläre meiner Mutter anschließend, dass der Mann offenbar die Fluch ergriffen habe. Schließlich habe sie so laut um Hilfe geschrien, dass er wohl Angst bekam und abgehauen ist.  Anschließend frage ich sie, ob sie den Kerl denn beschreiben könne, denn wir müssten der Polizei Anhaltspunkte geben, wonach sie suchen solle.   Verschiedene Beschreibungen lieferte sie dann am Morgen nach, als sie in Form von Selbstgesprächen, am Tisch sitzend,  die Polizei rief und unterschiedliche Vorfälle schilderte: Mal sind es zwei Brüder, von denen aber nur einer Böse sei. Mal habe ihr Vater ein Machtwort gesprochen, ein anderes Mal habe der Pastor die Lage geklärt.  Unterbricht man sie während solcher Gespräche und stellt z.B. eine Frage, kann sie sich an das Erzählte nicht erinnern. Es ist jedenfalls interessant zu beobachten, auf welche Weise Verdrängtes aus ihrer Kindheit hochkommt.  Aus meiner Sicht handelt es sich um Versatzstücke, die der halbwache Verstand zu einer schlüssigen Geschichte zusammen zu setzen versucht. Das Einzige, was sich daraus ziemlich sicher folgern lässt, sind erlebte Übeltaten durch Männer in ihrem Umfeld, die dafür nicht bestraft wurden.  Stattdessen hat man sie als junges Mädchen für gestört erklärt. Sie würde Geschichten erfinden, um sich wichtig zu machen, etc. Auch das kommt in ihren Selbstgesprächen zum Ausdruck.  Nachfragen bringen nichts, da sie sich bewusst an nichts erinnern kann. Durch Ablenkung auf ein gegenständliches Thema, lässt sie sich jedoch wieder ins Hier und Jetzt zurückholen.  Sitzt sie alleine da, ohne Beschäftigung, kommen die Erinnerungsfragmente wieder hoch, aus denen sie, wie eine Zuschauerin, in der dritten Person, Geschehnisse ableitet, als würde sie aus einem Buch vorlesen.

Meine Geschwister und ich wissen aus den häufigen Erzählungen der Mutter, dass sie in jungen Jahren Traumatisches erlebt haben muss.  Zu Beginn des 2. Weltkriegs gaben ihre Eltern, die fliehen mussten und ihr Haus verloren hatten, Angela, ihr drittes von 5 Kindern, zu einer Tante.  So wurde sie mit neun Jahren entwurzelt.  Ohne Kontakt und ohne zu wissen, wie es der Familie geht.  1946, nach dem Ende des Krieges, zogen die Eltern mit den Geschwistern  in das Elternhaus des Vaters, in der Nähe des Hauses, in dem sie bei der  kinderlose Tante und dem „Onkel“ lebte.  Da es im Elternhaus des Vaters nur zwei Zimmer gab, für die siebenköpfige Familie, musste Angela bei Tante und Onkel wohnen bleiben.

Wer sich mit alten Menschen beschäftigt, die am Ende ihre Lebens Symptome von Demenz entwickeln, begegnet eigentlich immer wieder einem gleichen Muster.  Denn die allermeisten der heute Alten,  haben in der Kindheit existenziell bedrohliche Situationen erlebt.  Was es genau war, daran können sie sich nicht erinnern.  Denn darüber hat die Psyche den Mantel des Vergessens gebreitet.  Eine Selbstschutzreaktion, die dem Betroffenen ermöglicht, trotz des schlimmen Erlebnisses einigermaßen „normal“ weiter leben zu können.  In der Psychologie werden verschiedene Formen  traumatischer Erfahrungen beschrieben.  Das Phänomen ist bekannt. Ebenfalls bekannt sind Reaktionsmuster, wie wir sie gerade bei unserer Mutter erleben.  Leider werden diese oft als Wahnvorstellungen abgetan. Oder einfach nur als  Symptom einer Demenz vom Typ  Alzheimer hingestellt.  Tatsächlich handelt es sich um verdrängte Erinnerungen, die während der Traumphasen  bruchstückhaft in Erscheinung treten und dann zu Angstreaktionen führen.  In gewisser Weise findet hier ein Retraumatisierung statt. Wobei die Bedrohung, die von Angstträumen ausgeht, als real erlebt wird.  Fachlich korrekt würden Pflegende im Umgang mit derartigen Angstbildern, die Methode der Validation anwenden.  Also, wie oben beschrieben, der Mutter helfen, den vermeintlichen Verbrecher zu fassen.  Da sich Gleiches jedoch regelmäßig wiederholt, habe ich im Weiteren auch andere Reaktionen probiert und festgestellt, dass sich die Angst der Mutter viel schneller löst, wenn ich ihr erkläre, sie solle sich freuen, dass es nur ein schlechter Traum war.  „Schau dich um. Du bist hier bei mir. …. Unser Hund passt auch auf dich auf. … Und jetzt beginnt wieder ein neuer Tag.“  Dann helfe ich ihr beim Anziehen, mache das Frühstück und danach ist der böse Traum vergessen.   Manchmal kann es auch ganz lustig sein.  Als sie morgens wieder einmal aufgelöst war und meinte,  jemand habe sie vergewaltigen wollen, entgegnete mein Mann trocken:  „Angela, Du bist 95, Dich vergewaltigt keiner mehr.“, woraufhin sie ihn dann mit großen Augen anschaute und meinte: „Ja, da hast du auch wieder recht.“    Inzwischen sagt sie nicht mehr, mich hat einer verfolgt, sondern sie sagt: „Ich habe die ganze Nacht wieder nur blödes Zeug geträumt. ….. Warum träume ich denn  so was?“

„Bin ich denn jetzt ganz neben der Spur?“ 

Tatsächlich ist  Mutter noch viel mehr  neben der Spur, als sie es für sich selbst wahrnimmt.  Um sich das selbst zu bestätigen und uns zu demonstrieren, zeigt sie uns die Hefte mit den Mandalas, die sie ausgemalt hat:  „Sieh doch, wie genau ich das alles gemalt hab. Kein Strich drüber.  Also muss ich doch noch in der Spur sein.“   Am 11. Mai, ich war zum Muttertagsbesuch bei ihr, erklärte ich mich spontan bereit, Mutter mit zu mir zu nehmen.  Denn mein Bruder und alle vor Ort waren am Ende. Die Situation war eskaliert,  als nach Ostern  eine „Polin“ bei  ihr eingezogen war.  Statt der erhofften Entlastung  mussten Bruder, Schwägerin und Enkel nun regelmäßig einschreiten, weil die bis dahin überwiegend freundliche  „Mama/Oma“ hochgradig aggressiv auf die Bemühungen dieser fremden Frau reagierte.  Allerdings war „Teresa“ auch denkbar ungeeignet. Sie sprach kaum ein Wort Deutsch, versuchte der  verwirrten alten Frau, mit Hilfe eines Übersetzungsprogramms auf ihrem Handy Dinge zu erklären oder redete auf Polnisch auf sie ein.  Schon bei meinem Besuch wenige Tage zuvor, war mir klar, dass das nicht gut gehen kann. Mutter war außer sich. Wollte nicht mehr leben. Hatte  tatsächlich versucht, sich die Treppe runter zu stürzen. Auch ich konnte sie mit Worten nicht erreichen.  „Wenn du mir nicht hilfst, dann fahr wieder.“, giftete sie mich an.

Da ich als älteste Tochter die größte Distanz zur  Mutter hatte, nicht nur räumlich, sondern auch emotional, und außerdem beruflich mit allerlei Pflegesituationen befasst bin, habe ich sie dann nach dem gemeinsamen Kaffeetrinken zu einer kleinen „Spazierfahrt“ eingeladen.  Angesichts der Ehrerbietung ihrer Kinder und Enkel zum Muttertag war sie guter Stimmung, kommentierte alles, was sie unterwegs sah, und genoss die Abwechslung.  Da sie weder Zeitgefühl noch ein Gefühl für die Entfernung hatte, realisierte sie erst als wir an der Linzer  Fähre ankamen, dass ich mit ihr zu meinem Mann und mir nach Hause fahren wollte.  Am ersten Abend konnten wir sie noch gut beruhigen. In den nächsten Tagen jedoch,  als wir erklärten, dass sie jetzt ein paar Tage bei uns bleiben soll, reagierte sie äußerst ungehalten.  Sie verlangte ein Taxi,  drohte sogar, vom Balkon zu springen und ließ sich kaum beruhigen.   Ihr langjähriger Hausarzt hatte auf meinen Anruf hin sofort eine Überweisung in eine Gerontopsychiatrie geschickt. Er hatte auch vorher schon Melperon verordnet, ein Neuroleptikum, das sie 3 x täglich bekam.  Statt der erhofften emotionalen Dämpfung, stellte sich jedoch eher eine paradoxe Wirkung ein.

In der ersten Woche sah ich mich mit dieser völlig außer Kontrolle geratenen alten Frau überfordert.  In diesem Zustand konnte ich sie nicht einmal mehr als meine Mutter wahrnehmen. Validation ging auch nicht. Vielmehr habe ich mehrere Tage und Nächte tatsächlich mit ihr gerungen.  Ich habe ihr ihre  Ichbezogenheit, ihr Selbstmitleid und alles, was sich  bei mir angestaut hatte, schonungslos vorgehalten.  Sie weinte, beschimpfte mich und schrie. Ich habe sie nicht getröstet, sondern schmollen lassen. Wäre es mir in dieser schwierigen Phase gelungen, für sie einen Platz in einer Gerontopsychiatrie oder einem Heim zu bekommen, hätte ich sie, ohne zu zögern, sofort dort abgeliefert.  Heute bin ich jedoch sehr froh, dass es diese Not-Lösung kurzfristig nicht gab, sondern wir einen Modus fanden, mit dem alle relativ entspannt leben können.

„Das Malen beruhigt mich.“

Wenige Tage später schickte ich ein kurzes Video an meine Geschwister, in dem Mutter eines ihrer ausgemalten Blumenbilder zeigte und erklärte, dass sie sich durch das Malen beruhigt habe.  Alle atmeten erleichtert auf.

Zuvor hatte eine befreundete  Homöopathin  für sie ein offenbar passendes  Mittel  gefunden.  Bereits am zweiten Tag nach der Einnahme war Mutter deutlich entspannter und freundlicher.  So, als sei ein Schalter umgelegt worden, von verzweifelter Abwehrhaltung auf Annehmen können.  Abends zum besseren Einschlafen gab ich ihr 20 Tropfen eines pflanzlichen Mittels. Andere Medikamente benötigt Mama nicht. Sie hat für ihr hohes Alter noch einen Blutdruck zwischen 120 und 140, hat keinen Diabetes, keine Herz-Kreislauf-Beschwerden, keine Verdauungsprobleme. Sie geht selbständig zur Toilette oder auf den Toilettenstuhl,  trinkt ausreichend und hat guten Appetit.  Ihr körperlicher Gesundheitszustand ist überdurchschnittlich.  Auch wenn sie täglich davon spricht, dass es wohl bald mit ihr zu Ende sei, achtet sie darauf nicht krank zu werden.  Wenn ich ihr z.B. abends ihre  Tropfen gebe, sagt sie bei fünfzehn: „Genug: Ich will ja morgen wieder wach werden.“

„Jeder Mensch braucht eine Arbeit, sonst kommt er auf dumme Gedanken.“

Womit beschäftigt man einen altersverwirrten Menschen, der fast nichts mehr von dem kann, was früher sein Leben ausgefüllt hat?  In einem Schreibwarenladen fand ich eine Zeitschrift  mit Blumenmotiven zum Ausmalen. Das konnte ich mir noch am ehesten vorstellen. Denn auf ihren Blumengarten vor dem Haus war Mutter stets sehr stolz. Allgemein hatte sie einen grünen Daumen, wofür sie viel Bewunderung erfuhr.  Als ich ihr jedoch das Heft mit den Stiften hinlegte, schob sie es ärgerlich weg: „Ich hab noch nie gemalt. Das kann ich gar nicht. Was soll ich damit?“  Während sie sich schmollend in ihr Zimmer verzog, habe ich dann angefangen zu malen und das halbfertige Blumenbild aufgeschlagen am Tisch liegen lassen, bevor ich ins Büro bin.  Als ich später wieder  nach ihr schaute, saß sie da und malte. Seitdem malt sie jeden Tag an die 10 Bilder, Mandalas oder anderer Motive.  Sie sitzt dann stundenlang hochkonzentriert, wie in einem Tunnel und  überlegt welche Farbe wohin passen könnte. Oft nimmt sie nicht einmal wahr, wenn wir an ihr vorbeilaufen. Sobald sie mich oder meinen Mann jedoch wahrnimmt, will sie für ihre Gemälde bewundert werden oder sie fragt, welche Farbe sie nehmen soll.  Da die meisten ihrer Bilder tatsächlich erstaunlich schön sind, erhält sie dafür gebührende Bewunderung.  Die Bewunderung, die sie früher für die Blumenpracht ums Haus, auf dem Grab ihres Mannes oder am Dorfplatz, den sie bis 2022 noch pflegte, bekam, bekommt sie jetzt für ihre gemalten Bilder.  In jedem Ausmalbuch gibt es jedoch auch etliche Seiten, die sie einfach nur auf die Schnelle mit einer Farbe  übermalt hat.  Beim Durchblättern sagt sie dann selbst: „Na-ja, das ist nichts.“ Oder:  „Ich weiß, dafür gibt es keine gute Note.“  Oder:  „Das war mir zu viel durcheinander.“  Überhaupt spiegelt die Qualität ihrer Bilder ihr Stimmungsbild wieder. An manchen Tagen scheint alles im grünen Bereich, an anderen dominieren Rottöne oder Gelb.  Das Beste daran ist  jedoch, dass sie dieses Malen als ihre „Arbeit“ angenommen hat.  Während wir unserer Arbeit nachgehen, sitzt sie nicht einfach nur untätig herum. „Jeder Mensch braucht eine Arbeit, sonst kommt er auf dumme Gedanken.“, erklärt sie oft. Früher habe sie vieles machen müssen, was ihr keinen Spaß gemacht habe.  Manchmal gelingen sogar folgerichtige Streifzüge in die Vergangenheit. So habe ich schon etliches erfahren, was ich vorher aus ihrem Leben nicht kannte.  Überhaupt habe ich mich bis dahin nie so eingehend mit meiner Mutter unterhalten können.  Freilich  kann sie auch jetzt nicht zuhören. Sie interessierte sich nie wirklich für die Erlebnisse und Erfahrungen ihrer Kinder oder Enkel. Wer sie besuchte, bekam immer ihre Geschichte zu hören, wie sie vom Saarland in die Eifel kam, im Krieg mit der Mutter und den Geschwistern flüchten musste, dann zu einer kinderlosen Tante  gegeben wurde,  wo sie später  unseren Vater kennen lernte, den sie bis heute als ihren Retter und Felsen in der Brandung verehrt.

Tatsächlich besaß unser Vater Eigenschaften und Qualitäten,  die wir bei der Mutter vermisst haben. Er konnte zuhören, mit ihm konnte man echte Gespräche führen. Er war empathisch, zeigte viel Verständnis,  auch für das oft anstrengende Verhalten seiner Frau.  Die beiden führten, trotz der Verschiedenheit, eine liebevolle Beziehung, als seien sie füreinander bestimmt. Der Vater hatte eine ausgleichende Art und natürliche Autorität. Mein Verhältnis zur Mutter war schwierig. Ich versuchte ihr nach Möglichkeit aus dem Weg zu gehen und zog schließlich mit 14 Jahren in ein Internat.   Im Schnitt besuchte ich die Eltern, nach dem Tod des Vaters im Mai 2016, die Mutter, sechsmal im Jahr. Unter den Geschwistern besteht überwiegend ein gutes Verhältnis. Wir alle sind erleichtert,  dass sich der Zustand unsere Mutter stabilisieren konnte, so dass sie wieder umgänglich ist und sogar immer wieder auch ihre schönen Seiten zum Vorschein kommen.  Tagsüber beschäftigt sie sich überwiegend selbst.  Inzwischen auch mit Stricken, wenn sie mal keine Lust aufs Malen hat. Allerdings braucht sie die Gewissheit, dass immer jemand da ist und hört wenn sie ruft. Wenn längere Zeit keiner nach ihr schaut bzw. sich zu ihr setzt und mit ihr spricht, beschwert sie sich.
Nach dem Abendessen  geht Mutter ins Bett, wobei sie inzwischen, ohne zu rufen oder herumzulaufen in ihrem Zimmer bleibt, bis sie hört, dass wir aufgestanden sind.  In den ersten Wochen rief sie wenigstens einmal in der Nacht. Und wenn  nicht sofort jemand kam, schrie sie durchs ganze Haus, geriet dann gleich wieder in Panik, weil sie sich alleine gelassen fühlte und Angst bekam.

„Ich hätte ja nie gedacht, dass ich so alt werde.“    

Diesen Satz höre ich häufig. Quasi als Entschuldigung für die Arbeit, die sie uns macht. Wobei Mutter  im nächsten Atemzug jedoch bemerkt: „Aber ich mache ja noch alles selbst. Ich hab mein Haus und alles immer in Schuss gehalten. Mir brauchte nie einer zu helfen. Nach dem Tod eures Vaters, hat sich keiner gekümmert. Ich musste alles alleine machen.“  Hier könnte man ihr das Gegenteil zwar leicht beweisen, aber derartiges kommt bei ihr nicht mehr an.  Mit Widerworten konnte sie noch nie umgehen. Alle in ihrem Umfeld haben es vermieden, Mutter zu widersprechen oder wenn doch, dann in Humor verpackt.  Jetzt ist es zu spät für Aufarbeitung und Kritik. Niemand wird einen alten Menschen in irgendeinem Punkt umerziehen können. Wer das versucht, kann nur enttäuscht werden.  Als Angehörige  müssen wir sie so nehmen wie sie ist.   Unsere Mutter hatte immer schon einen Tunnelblick.  Eingeengt auf ihre Befindlichkeit.  Ihr Blickfeld ist nun noch stärker eingeengt.  Einerseits ist es interessant, andererseits jedoch auch erschreckend bis unerträglich, aus nächster Nähe das Hamsterrad mitzuerleben, in dem sie sich bewegt. Sie selbst kann die Bilder und Gefühle nicht abstellen, geschweige denn ordnen, die in ihrem Kopf herumgeistern. Wir können sie höchstens ablenken oder einen „Ersatztunnel“,  wie das Malen, anbieten, sodass ihre Gedanken für einige Zeit fokussiert sind.

„Ich falle gleich tot um. Dann siehst du, was du angerichtet hast.“ 

Dass Mutter ausgerechnet von mir in Pflege genommen wurde, wundert sie selbst. In klaren Momenten fragt sie jeweils:  „Warum bin ich jetzt bei dir, du hast dich doch immer am wenigsten um mich gesorgt. “  Darauf antworte ich in Gedanken – manchmal auch direkt: „Weil Du jemand brauchst, der Dir  Einhalt gebietet, wenn Du Dich wieder hineinsteigerst und durchdrehst.“  Entgegnungen,  zu denen sie mich dann oft herausfordert,  enden regelmäßig damit, dass sie mich anschreit und droht:  „Ich falle gleich tot um.  Dann siehst du, was du angerichtet hast.“, zumeist noch mit dem Nachsatz:  „Gott wird dich dafür strafen, wie du mit deiner Mutter umgehst.“  Meine Antwort: „Du bist nicht meine Mutter.  Du benimmst dich wie ein trotziges Kleinkind.“ Dann lasse ich sie  alleine.   Nach kurzer Zeit hat sie den Zwischenfall wieder vergessen und fragt, wenn sie mich sieht: „Wo warst du? Ich hab Durst, kannst du mir einen Kaffee machen.“   Meine Antwort: „Wenn du mich freundlich bittest, mache ich dir gerne eine Tasse Kaffee.“   Manchmal schaut sie dann vorwurfsvoll auf, weil ich nicht direkt lossprinte, um ihren Wunsch zu erfüllen.  In ihrem Selbstverständnis haben Kinder und Enkel „zu folgen“. Wer ihr als Kind Widerworte gab,  war frech.  „Kinder müssen ihre Eltern ehren.“  Solange sich Mutter noch  selbst versorgen konnte, war das kein Problem.  Bei den kurzen Besuchen oder an Festen, bedienten alle sie gerne.  Mutter war dann in ihrem Element, die Liebenswürdigkeit in Person,  und sah sich als Mittelpunkt der Familie geehrt.

Wenn ich derartige Begebenheiten, die zwei bis drei Mal pro Woche eine Herausforderung darstellen, nicht einfach unter den Tisch fallen lasse, so weil ich weiß, dass andere Angehörige Ähnliches erleben.  Wobei die wenigsten offen darüber sprechen.  Derart unschöne Verhaltensweisen  seiner Mutter, seines Vaters oder Ehepartners,  sind nicht für „anderleuts Ohren“.  Wer  in der Fachliteratur oder im Internet Ratschläge zum Umgang mit Demenzkranken sucht, erfährt im Grunde nur, dass diese Kranken für ihre Absonderlichkeiten nichts können. Es sei die Demenz.  Pflegende  sollten Beschimpfungen und Drohungen nie persönlich nehmen, sondern jeweils mit Verständnis  darauf reagieren.  Wo Validation nicht gelingt, wird Ablenkung  als Mittel der Wahl empfohlen.   Wer jedoch auf  Verhaltensmuster trifft, wie sie meiner Mutter mitunter zeigt, sollte wissen, wie er sich selbst davor schützen kann, tiefe Abneigung zu entwicklen oder Schuldgefühle. Es ist ein himmelweiter  Unterschied, ob ich einen mir  fremden Menschen betreue oder die eigene Mutter.

Die Zeit mit meiner pflegebedürftigen Mutter  hat mir einige Grenzen vor Augen geführt und mein Verständnis für pflegende Angehörige verstärkt. Vor allem wenn die  Beziehung vorher schon konfliktreich war, benötigen Angehörige nicht nur starke Nerven, sondern genügend Unterstützung.  In unserem Falle besteht die Möglichkeit, die Last auf mehrere Schultern zu verteilen.  Darum freuen wir uns, dass Mutter  jetzt  wieder  für einige Wochen bei  ihrer Tochter in Adenau  leben kann.    Dort  hatte sie den gesamten Juli bereits verbracht.  Außerdem ist Mutter dort näher an ihrem Heimatort, so dass sie öfter von dem Rest der Verwandtschaft besucht  werden kann.

Adelheid von Stösser im Oktober 2025 

 

3 Kommentare

  1. Es ist ja beileibe nicht alles Traurig-Gedrückend, wenn die Alten mal was für sich halten. Meine Oma malte schon immer seltsame Kreise auf den Fensterläden, nannte es Zeitkreise und behauptete, so die Uhr stellen zu können. Sieh doch, wie präzise das alles ist! Kein Strich drüber. Manchmal glaubt man ihr, aber dann wieder nicht. Ist ja alles gut, wenn sie glücklich ist und wir nicht mehr ständig nachdenken müssen, was die nächste Krise sein könnte. Wichtig ist, dass wir ihnen glauben und ihnen zeigen, dass sie noch gebraucht werden – auch für unsere eigenen Nerven.vòng quay

  2. Es ist faszinierend zu beobachten, wie unsere Mutter ihre Vergessenheit kreativ aufarbeitet – mal als Selbstgespräch, mal als Mandala-Meisterin. Ihre Angst vor dem Verlassenwerden ist verständlich, aber manchmal wirkt ihre Suche nach Verbrechern etwas übertrieben. Die Lösung mit dem Malen und Stricken ist jedoch brillant: Sie findet wieder eine „Arbeit, die ihr das Leben beruhigt. Wenn sie aber mal nicht ins Bild passt, hilft es manchmal, ihr zu erklären, dass es nur ein schlechter Traum war. So geht man mit ihr um, ohne sie in eine Gerontopsychiatrie abzuliefern. Ihre Mandala-Kunst ist beeindruckend, auch wenn gelegentlich Seiten nur schnell mit einer Farbe überstrichen werden. Das zeigt, dass sie selbst weiß, was wirklich zählt: Jeder Mensch braucht eine Arbeit, sonst kommt er auf dumme Gedanken – und das gilt auch für diejenigen, die uns das Leben leichter machen.đếm ngược ngày

    • Es ist davon auszugehen, dass dieser Kommentar von einem KI-Programm geschrieben wurde. Dennoch schalte ich ihn frei, weil es eine passende Zusammenfassung ist.

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